Direkt gewählt, aber nicht im Bundestag: Das neue Wahlrecht erhitzt die Gemüter

Das neue Wahlrecht führt dazu, dass direkt gewählte Kandidaten ihr Mandat nicht antreten können. Besonders die Union ist betroffen. Die Ampel hat ein Instrument geschaffen, mit dem die Stadtelite die Stimme des Landes aushebelt. Wie hoch ist der Vertrauensverlust in die Demokratie?

picture alliance / Eibner-Pressefoto | Eibner-Pressefoto/Franz Feiner

Robert Habeck verliert seinen Wahlkreis in Flensburg-Schleswig gegen seine CDU-Rivalin Petra Nicolaisen. Der Grüne zieht ein, Nicolaisen nicht. In Augsburg-Stadt ein ähnliches Spiel: Claudia Roth verliert gegen den CSU-Kandidaten Volker Ullrich. Roth zieht über die Landesliste ein, Ullrich nicht.

Das ist besonders bitter, weil Ullrich derzeit noch Bundestagsabgeordneter ist und seinen Wahlkreis erfolgreich verteidigt hat. Dass er paradoxerweise trotz Sieges nicht einzieht, hängt mit dem zu geringen Zweitstimmenanteil der CSU zusammen. Ullrich macht der noch amtierenden Kulturstaatsministerin schwere Vorwürfe: Königsbrunn sei aus dem Landkreis herausgeschnitten worden, um die CDU zu schwächen. Roth sei „keine Demokratin“.

— AndreasHerz (@AndrsHrz) February 23, 2025

Das bei seiner Verabschiedung scharf kritisierte neue Wahlrecht zeigt seine Wirkung – Kritiker, die damals eine Schwächung von CDU/CSU, aber auch der AfD in den östlichen Bundesländern vermuteten, sahen sich spätestens am Wahlabend bestätigt. Es ist ein Gesetz, das dazu führt, dass direkt gewählte Spitzenkandidaten scheitern können.

Die direkte Wahl, der direkte Sieg, der direkte Einzug eines Repräsentanten des Volkes wird verhindert. Das ist nicht nur für Ullrich und Nicolaisen schwer zu verkraften, sondern auch für Wähler außerhalb des Unionsspektrums kaum nachvollziehbar.

Es sind nicht die einzigen beiden Fälle. 23 „Wahlkreissieger“ münzt das Gesetz zu Verlierern um. 18 Unionspolitiker – 15 bei der CDU, 3 bei der CSU –, 4 Kandidaten der AfD und ein SPDler sind von dem neuen Wahlrecht betroffen, das die Ampel-Koalition durchgeboxt hat. Dass dieses die in den Landkreisen starken Parteien benachteiligen würde, war Beobachtern damals schon klar gewesen. Insbesondere die CSU konnte aufgrund ihrer Mehrheiten häufig fast alle bayerischen Mandate holen. Ähnliches gilt für die CDU, aber auch für die AfD, die mittlerweile im Osten in der Fläche gewinnt.

Das Gesetz entsprach damit nicht nur dem Bedürfnis der kleineren Ampelparteien. Es entsprach auch der Erkenntnis, dass im gesamten Westen die Trennlinie des Politischen mittlerweile zum großen Teil ein Kampf zwischen Stadt und Land geworden ist. Das US-System hatte an der Repräsentation der Bundesstaaten – auch in der Fläche – ein starkes Interesse, damit die Metropolen nicht die Landbevölkerung überstimmen. Länder mit föderalen Traditionen folgen diesem Weg.

Eigentlich gehört dazu auch Deutschland. Doch das neue Wahlgesetz ist eine Brechstange, um den Willen der Städter gegen die Landbewohner durchzusetzen: Es hilft eher den Grünen und der SPD als den konservativen Parteien, die außerhalb der Metropolen ihre Stütze haben. Die Ampel hat neuerlich für ihre eigene Macht den Frust der Wähler provoziert. Es ist zudem eine Wahlreform, die sich in einer Koalition unter Beteiligung der SPD kaum zurückdrehen lässt. Außer, die Union spielte mit der AfD über Bande. Das wird mit einem Kanzler Friedrich Merz nicht möglich sein.

Denn möglicherweise ist der Union das neue Wahlrecht doch genehmer, als man zuerst meinen mag. Auf den ersten Blick ist sie Verliererin der Reform. Doch die internen Mechanismen entsprechen den Wünschen der Parteien. Das freie Mandat wird beschränkt. Listen werden noch wichtiger. Damit wächst die Abhängigkeit von der Parteiführung. Wenn man sich nicht einmal mehr auf den Sieg bei einer Direktwahl verlassen kann, muss man sich absichern. Widerstand und abweichende Positionen werden seltener. Weniger Mitbestimmung. Mehr Parteiengewalt. Das trifft Abgeordnete und Bürger gleichermaßen.

Das in Deutschland bisher zelebrierte System aus Erst- und Zweitstimme hat damit einen ordentlichen Vertrauensknacks erhalten. Man mag auf die Tradition des personalisierten Verhältniswahlrechts pochen. Darunter hat man jedoch nicht immer dasselbe Konzept verstanden. Das erste deutsche Wahlrecht der Bundesrepublik sah noch vor, dass jedes Bundesland eine bestimmte Anzahl an Abgeordneten entsendet. Damals hatten die Wähler nur eine Stimme, mit der sie sowohl den Kandidaten als auch die Landesliste unterstützten. Wie sehr man heute noch von einem personalisierten Verhältniswahlrecht sprechen kann, wenn die Erststimme auf diese Weise entwertet wird, können wohl nur Vertreter von SPD, Grünen und FDP beantworten.

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