Versicherte lehnen das schlaue Kärtchen ihrer Krankenkasse ab

Die elektronische Patientenakte floppt. Nicht einmal jeder Zehnte Versicherte nutzt sie, wie der Verband der Hausärzte mitgeteilt hat. Die Ursachen dafür liegen im Misstrauen gegenüber dem Staat – und in der alles abwürgenden Bürokratie in Deutschland.

picture alliance / Jörg Carstensen | Joerg Carstensen
Karl Lauterbach (SPD), Bundesgesundheitsminister, stellt am 15. Januar 2025 die elektronische Patientenakte (ePA) in der Bundespressekonferenz vor

Das gibt ein heißes Rennen in Berlin: Hören die Passanten in der Hauptstadt am Tag öfter “Danke”, “Bitte” oder “wir müssen die Bürokratie abbauen”? Angesichts der stoffeligen Bewohner dürfte der Wunsch nach Bürokratie-Abbau gewinnen. Denn der geht vor allem den Menschen innerhalb des Regierungsviertels locker von den Lippen. Doch was bedeutet das? Die Bürokratie müsse abgebaut werden?

Die elektronische Patientenakte ist ein Beispiel dafür. In Litauen ist diese seit 2015 eingeführt, in Dänemark bereits seit 2004 – verpflichtend. Deutschland hat sie auch seit zwei Jahrzehnten – diskutiert. Zwei Jahrzehnte dauerte die Diskussion, während andere Länder machten, redeten die Deutschen nur. Karl Lauterbach (SPD) hat sie als Gesundheitsminister eingeführt. Nur funktioniert sie nicht, wie der Vorsitzende des deutschen Hausärzteverbandes, Markus Beier, gegenüber der Rheinischen Post erzählt hat.

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Zum einen nutzt nicht mal jeder zehnte Versicherte die elektronische Patientenakte. Was auch am Namen liegen könnte. Elektronische Patientenakte klingt nach einem hoch staatstragenden Akt – und nach der Pandemie stimmen immer mehr mit den Füßen ab, wenn es darum geht, dem Staat oder vielmehr seinen Akteuren das Misstrauen auszusprechen. Dabei ist die elektronische Patientenakte technisch nicht mehr als eine Payback-Karte. Nur speichert sie nicht, wer wann welche Einkäufe getätigt hat, sondern die Gesundheitsdaten des Versicherten.

Das kann von großem Vorteil sein. In der Routine vereinfacht es die Dinge, etwa in der Abrechnung von Patient und Versicherung auf der einen und Ärzten oder Apotheken auf der anderen Seite. Im Notfall kann die medizinische Payback-Karte Leben retten. Etwa, wenn der behandelnde Notarzt einen schnellen Zugriff auf alle Informationen zu seinem Patienten kommt – etwa, welche Allergien oder Vorerkrankungen der hat und welche Medikamente oder Behandlungen der Arzt dem Notfallpatient entsprechend besser nicht zukommen lässt.

Neben dem fehlenden Vertrauen in die elektronische Patientenakte ist es eben die Bürokratie, die in Deutschland scheitern lässt, was in anderen Ländern seit 20 Jahren funktioniert: Die Akte sei “schlichtweg nicht alltagstauglich”, sagt Beier der Rheinischen Post. Es sei kompliziert, sich anzumelden. Es gebe immer wieder technische Störungen, wodurch die Arztpraxen – ohnehin überlastet – permanent keinen Zugriff auf die Daten ihrer Patienten haben.

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Nach zwei Jahrzehnten Vorlauf schafft Deutschland es nicht, ein System einzuführen. Eines, das in anderen EU-Ländern bereits seit 20 Jahren funktioniert und nur übernommen werden müsste. Etwas, das begabte Schüler programmieren können. Deutschland scheitert daran. Das ist weder ein Zufall noch ein Einzelfall. Die “Kindergrundsicherung” wollte die Ampel mit einer informierenden Internetseite flankieren. Vier Jahre sollte die Programmierung dauern. Eine Arbeit, die Teilnehmer ohne Vorkenntnis in einem Volkshochschulkurs lernen können.

Genau hier wirkt sich aus, dass Bürokratie-Abbau in Deutschland nur ein leeres Versprechen ist. Ein unbeschreiblicher Wust von Vorschriften und eingebundenen Behörden machen aus simplen Vorgängen jahrelange Prozesse – und hinterher funktioniert trotzdem nichts. Weil alle Bedenken aller hauptberuflichen Bedenkenträger stärker im Fokus des absurden Prozesses waren als die Funktionalität.

Das wichtigste Bedenken gilt dem Datenschutz. Das ist zwar einerseits berechtigt. Doch auf der anderen Seite können schon begabte Schüler Programme entwickeln, die Daten zumindest gegen einen Großteil der Angriffe schützen. Außerdem ist der Umgang mit Patientendaten schon jetzt fragwürdig. Immer wieder kommen Fälle ans Tageslicht, in denen Krankenkassen die intimen Daten ihrer Versicherten für gewerbliche Zwecke missbraucht haben. Etwa, wenn gesetzliche Krankenkassen die Daten privaten Versicherern überlassen haben, damit die gezielt für private Zusatzleistungen werben können.

Eine verbreitete Angst ist die, dass die elektronische Patientenakte für ein “Social Scoring” missbraucht werden könnte. Etwa, dass Raucher, Trinker oder Fettleibige höhere Versicherungsbeiträge zahlen müssen. Die Gefahr des Social Scorings ist durchaus real. Immer wieder tun sich Politiker mit entsprechenden Forderungen hervor. Doch dafür braucht es die Patientenakte nicht. Die dafür nötigen Daten haben die Krankenkassen längst. Die Betreiber von Payback-Karten übrigens auch. Es ist nur der politische Widerstand, der vor solchen Ideen schützt, nicht der Widerstand gegen eine schlaue Patientenkarte. Wenn sie denn mal funktionieren würde.

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Kommentare ( 62 )

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62 Comments
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Helfen.heilen.80
12 Tage her

Aus täglicher Ansicht der alltäglichen Abläufe würde ich diesen Schritt keinem Patienten empfehlen. Es mag Vorteile geben, unzweifelhaft, aber die möglichen Nachteile sind m.E. zu groß. Um das zu illustrieren eine kurze Skizze des Arbeitsfeldes. Eine Praxis besitzt eine Praxisverwaltungssoftware (PVS) und greift auf ein verschlüsseltes Kommunikationsnetzwerk nur für medizinische Einrichtungen zu. Es läuft auf einem Betriebssystem (oft Microsoft Windows) und schützt sich mit Security-Software gegen böswillige Cyber-Angriffe. Ggf. lizensierte Software für z.B. digital eingebettete Arbeitsgeräte, die ständig Listen von Daten erzeugen, z.B. über erfolgreiche Arbeitsgänge oder Prüfroutinen. Ein Arzt hat einen elektronischen Heilberufsausweis mit PIN-Code, ein Zugangsgerät, das die… Mehr

Last edited 12 Tage her by Helfen.heilen.80
Carl22
14 Tage her

Die Ärzteschaft hat seit der Digitalisierung ihrer Arbeitssphäre jeden Sch… mitgemacht, wenn ihr Ersparnisse (zB Zeit: „Mehr Zeit für Ihre Patienten!“) oder sonstwie Gewinn ( „PC spart bis zu einer Arzthelferin!“) versprochen wurde. Wer einst noch in einer analogen Praxis oder analogem Krankenhaus gearbeitet hat, weiß, wer die Gewinner und die Verlierer der digitalen Aufrüstung in diesen Bereichen seit den 1980ern waren und weiterhin sind. Und am besten Bescheid wissen Patienten nach erfolgtem Arztbesuch oder Krankenhausaufenthalt. Und jetzt also das „Kärtle“! Die spinnen, die Deutschen.

Peterson82
14 Tage her

****Leben retten. Etwa, wenn der behandelnde Notarzt einen schnellen Zugriff auf alle Informationen zu seinem Patienten kommt – etwa, welche Allergien oder Vorerkrankungen der hat und welche Medikamente oder Behandlungen der Arzt dem Notfallpatient entsprechend besser nicht zukommen lässt.*****

All das habe ich in meiner Notfallkarte im iPhone hinterlegt. Blutgruppe, mögliche Allergien, Organspende, Notfallkontakt, Sonstige Bemerkung. Einfach und effizient weil ich das Smartphone außer Haus sowieso mitführe. Und es ist einfach, unkompliziert und einzig in meiner Hand ob und wenn ja, welchem Detailgrad ich das ausfülle.

Danton
14 Tage her

Sie wollen wissen was ‚Bürokratieabbau‘ in z.B. Hessen bedeutet? Lesen sie Folgendes: „Hessen hat Deutschlands ersten Entbürokratisierungsminister und damit das Thema Bürokratieabbau zu einem Schwerpunkt der Landesregierung gemacht. Eine der ersten Weichenstellungen des neu geschaffenen Ressorts ist die Einsetzung der Stabsstelle Entbürokratisierung in der Staatskanzlei.“ Um Bürokratie in den Köpfen der Bürger abzubauen, erfindet man eine neue bürokratische Beamtenstelle die sich nicht entblödet sich unter diesen Umständen ‚Entbürokratisierungsminister‘ zu nennen. Und weil das den Bürokratenautomaten noch nicht genug aufbläht stellt man dem Minister noch 100? entbürokratisierungs Stabsgestellter zur Verfügung. Die wiederum jeweils 10 neu eingestellte Berater brauchen. Entbürokratisierung schafft Jobs… Mehr

AlexR
14 Tage her

Nee Karlchen. Solange ich nicht weiß, was in der ePa gespeichert werden und genauso wenig weiß, wie ich das steuern oder unterbinden kann, werde ich ein solche, staatlich bzw. ärztlich verordnete Anwendung niemals nutzen. Plötzlich passiert ein „Fehler“ und jeder kann die Daten einsehen. Die Reaktion des Gesundheitsministerium auf sowas kann ich mir lebhaft vorstellen: „jetzt ist es eben so. Aber die neuen Daten sind jetzt sischer. Alles andere müssen sie selbst regeln. Sie hätten ja die Anwendung nicht benutzen müssen!“. Karlchen bekommt dann neue Zähne. Von Apps der Supermärkte und Discounter wird aus Datenschutzgründen gewarnt. Aber Karlchens Anwendung, vermutlich… Mehr

Last edited 14 Tage her by AlexR
Monostatos
15 Tage her

Der Artikel könnte auch die Überschrift des FDP-Wahlkampfes 2021 tragen: „Digital First, Bedenken second“. Es wäre durchaus hilfreich, wenn in ausgewogener Weise dasFür und Wider gegenübergestellt würde, anstatt ohne Beleg zu behaupten, dass die Programmierung ein Kinderspiel wäre. Dass solche ePAen in anderen Ländern seit längerem existieren, muss nicht bedeuten, dass damit keine Probleme verbunden wären. Dem deutschen Staat – insbesondere solchen Gestalten wie Lauterbach und Konsorten – mit maximalem Misstrauen zu begegnen, ist elementarer Selbstschutz. Konkret: Die ePA verletzt in elementarer Weise ohne wirkliche Erfordernis den Datenschutz, weil die Daten nicht auf der Karte bleiben und damit beim Patienten,… Mehr

Ornhorst
15 Tage her

„Es gebe immer wieder technische Störungen, wodurch […] permanent keinen Zugriff […] haben.“ Was denn nun? Immer mal wieder permanent? Die Patientenakte (ePA) ist nicht schlau. Das ist nur ein System mit verschlüsseltem Cloud-Datenspeicher, physisch irgendwo in der EU, und Zugangskontrolle. Für mich ist diese Zugangskontrolle bereits eine Hürde, denn auf mein Smartphone, das technisch als Abhör- und Lokalisierungsgerät genutzt werden kann, kommen solche persönlichen Daten nicht. Selbst meine sozialen Kontakte lasse ich nicht mit irgendeinem Speicher synchronisieren. Also PC nutzen. Das geht nur in Verbindung mit dem Smartphone (ja) oder einem Kartenlesegerät, was ich nicht habe. Ärzte, Apotheken usw.… Mehr

Jatoh
15 Tage her

Zum Abbau der Demokratie war es erforderlich, ein neues Ministerium ins Leben zu rufen:
Bundesministerium für Digitales und Staatsmodernisierung.
Dort kann man neben dem Minister noch viele neue parlamentarische Staatssekretäre unterbringen.
Z. B. Herrn Phillip Amthor.

W aus der Diaspora
15 Tage her

Ich habe keine Payback-Karte und auch keine die dieser in irgendeiner Form ähnlich wäre.
Datenschutz im Gesundheitswesen? Wo doch zukünftig dann jeder Rettungssanitäter ganz schnell an die Daten kommen muss. Sorry, da ist der Datenschutz dann im Endeffekt gleich null.

Und es gibt ein paar Dinge, die eigentlich nur mich etwas angehgen. Wann ich was esse und wieviel davon und eben auch alles andere was meinen Körper betrifft. Das ist nämlich nicht nur mein Bauch, dass ist auch mein Kopf, meine Innereien etc.

verblichene Rose
15 Tage her

Ich bin aus einem ganz praktischen Grund gegen solche Akten.
Ich möchte nämlich zu einem Arzt, der mich auch ohne solche „Unterlagen“ behandeln kann. Ausserdem gibt es doch die Möglichkeit des Hausarztmodells. Wozu benötigt man also überhaupt noch Fachärzte, wenn irgendein „Verordner“ nur lesen können muß. In der Praxis sieht es übrigens schon ohne Patientenakte ziemlich trüb aus. Fünf Ärzte – fünf Diagnosen!
Soll sich dann demnächst ein Arzt die passendste aussuchen können?