„Mehr Grün wagen“ steht auf dem großen Plakat, das eine Demonstrantin hochhält. Der Mann neben ihr nickt heftig und skandiert: „Tiermörder“.
Es war der heutzutage handelsübliche Protest, der da am vergangenen Wochenende vor den Westfalenhallen in Dortmund stattfand. Selbsternannte Tierschützer beschimpften am Eingang von Europas größter Jagdmesse „Jagd & Hund“ die Besucher. Die nahmen es gelassen: Man kennt das inzwischen.
Was dagegen ein paar Tage vorher in Hannover passierte, war ungewöhnlich. Mehr als 20.000 Jäger in orange-greller Jagd-Signal-Sicherheitskleidung protestierten in Niedersachsens Hauptstadt gegen Pläne der grünen Landeslandwirtschaftsministerin Miriam Staudte. Sie will das Landesjagdgesetz ändern. Schon wieder: Erst im Dezember 2023 hatte sie es bereits verschärft.
Der Laie könnte nun denken, dass die Jäger demonstriert haben, weil sie mehr Tiere abschießen wollen, aber nicht dürfen. Falsch gedacht. Das Gegenteil ist richtig: Die Jäger haben unter anderem dagegen protestiert, dass es praktisch keine Begrenzung zur Jagd auf Rehwild mehr geben soll.
Denn der grüne Leitsatz heißt „Wald vor Wild“.
Dazu muss man wissen, dass das Reh bei uns die am häufigsten vertretene Wildart ist. Rehe haben eine sehr spezifische Verdauung, sie suchen sich ihre Nahrung sorgfältig aus. Finden sie nicht genügend nahrhafte Gräser, Blumen und Kräuter, knabbern sie die inhaltsreichen Triebe junger Bäume ab. Das nennt man dann „Verbiss“.
Für die kommerzielle Forstwirtschaft sind Rehe deshalb sozusagen der Endgegner. Es ist mühsam, langwierig und auch teuer, neu angepflanzte junge Triebe so lange zu schützen, bis die Bäume hoch genug gewachsen sind, dass Rehe oben nichts mehr abbeißen können. Auf vielen Flächen geht es gar nicht.
Also hat erst das grüne Milieu und dann die grüne Partei die Doktrin „Wald vor Wild“ ersonnen – erst in Bayern, dann bundesweit. Dabei werden sehr einseitig die meisten Waldschäden unseren großen Pflanzenfressern angelastet: in erster Linie dem Rehwild, in zweiter Linie auch dem (selteneren) Rotwild. Daraus wird pauschal gefolgert, es gebe zu hohe Wildbestände. Und die müsse man konsequent reduzieren.
Reduzieren heißt hier: massenhaft abschießen.
Seit Jahren sind es ausgerechnet die Jäger, die gegen „Wald vor Wild“ ankämpfen. Der Verein Wildtierschutz Deutschland zum Beispiel nennt die Ideologie einen „Krieg gegen Wildtiere“. Zwischen den beiden grundgesetzlich geschützten Rechtsgütern Eigentum (am Wald, zur Holzverarbeitung) und Tierwohl (der Wildtiere) gebe es überhaupt kein ausbalanciertes Verhältnis mehr. Die von sogenannten „ökologischen Jägern“ und weiten Teilen der grünen Partei geforderte massenhafte Bejagung vor allem von Rehen habe längst „völlig unethische Dimensionen erreicht“.
Es geht um viel Geld. Deutschlands Forst- und Holzwirtschaft macht pro Jahr knapp 190 Milliarden Euro Umsatz. Zum Vergleich: Die Automobilindustrie bei uns erreicht ca. 540 Milliarden Euro. Der Staat verdient kräftig mit, etwa ein Drittel der gesamten Waldfläche gehört der öffentlichen Hand. Und unsere Staatsforsten in den Bundesländern haben sogar noch weniger Neigung als die privaten Waldbesitzer, wegen des Tierschutzes auf Einnahmen aus dem Holzgeschäft zu verzichten. Also fördern sie nach Kräften den Wald-vor-Wild-Wahn – zusammen mit jenen Baumstreichlern, die ein nahezu religiöses Verhältnis zum deutschen Wald pflegen.
Die Rehe bleiben im Wortsinn auf der Strecke.
Denn was auch kein Laie weiß: Der moderne Waidmann schießt keineswegs nach Lust und Laune das Wild daher wie einst der Jäger aus Kurpfalz. Der überwältigende Großteil des bejagten Rehwilds in Deutschland wird entsprechend der amtlich vorgegebenen „Abschusspläne“ erlegt. Bei deren Erarbeitung in sogenannten Jagdbeiräten sind die Jäger zwar dabei – aber gegenüber den Vertretern der Forstwirte, der Landwirte sowie des Natur- und Waldschutzes chronisch in der Minderheit.
Wer einmal die Diskussion in so einem Jagdbeirat mitgemacht, weiß: Ernüchternd oft stehen die Jäger gegen alle anderen. Immer öfter werden immer höhere Abschussquoten verfügt. Immer öfter haben die Jäger Probleme, überhaupt so viele Stücke zu erlegen, wie ihnen vorgegeben wird. Das kann teuer werden – für den Jäger. Denn schießt ein Revierpächter weniger Wild als der Abschussplan vorsieht, muss er in der Regel eine Ordnungsstrafe zahlen. Das kann sehr ordentlich ins Geld gehen.
Und die Wald-vor-Wild-Fraktion macht keine Gefangenen. In Brandenburg hat der scheidende grüne Landwirtschaftsminister Axel Vogel ganz kurz vor dem Ende seiner Amtszeit noch schnell eine heftig umstrittene und von einer breiten Front von Fachleuten abgelehnte neue Durchführungsverordnung zum Jagdgesetz in Kraft gesetzt. Darin wurde die Jagdzeit für Rehe (und anderes sogenanntes wiederkäuendes Schalenwild) verlängert. Heißt: Noch weniger Ruhe für die Tiere des Waldes. Der Landesjagdverband nannte das empört „tierschutzwidrige Wildtierfeindlichkeit“.
Ähnliches wie in Brandenburg versucht jetzt Vogels Parteifreundin Staudte in Niedersachsen. Recht offenkundig handelt es sich hier um ein bundesweites grünes Projekt. Das zeigt der Umstand, dass viele Brandenburgische Ideen sich teilweise wortgleich im niedersächsischen Gesetzentwurf wiederfinden.
Was daran besonders irritiert, ist eine fast durchgehende Doppelbödigkeit in der Argumentation. Bei der Jagd auf Rehe spielt der Tierschutz keine Rolle. Die Jagd auf Raubwild (Füchse, Dachse, Marder, Marderhunde) wird dagegen enorm erschwert – und begründet wird das mit dem Tierschutz. Allerdings weiß nun wirklich jeder, dass Raubwild für ein regelrechtes Massensterben vieler geschützter und am Boden brütender Vogelarten sorgt. Für die spielt der Tier- und Artenschutz dann aber wieder keine Rolle.
Das Muster erinnert an andere Diskussionen. Naturschutz ist wichtig, wenn es gegen das Wild geht. Naturschutz spielt keine Rolle mehr, wenn es um Windräder geht. Für die wird dann auch schon mal der hessische Märchenwald großflächig abgeholzt.
Klimaschutz ist wichtig, wenn es gegen das Auto geht. Klimaschutz spielt keine Rolle mehr, wenn es gegen Atomenergie geht. Da erzeugt man den Strom lieber mit den schlimmsten und dreckigsten Kohlekraftwerken, als ein paar komplett CO2-freie Atommeiler länger laufen zu lassen.
Keine Frage: Man kann ja bei praktisch allem dafür oder dagegen sein. Das ist auch gut so. Aber ist es wirklich zu viel verlangt, dabei eine zumindest aussagenlogisch kohärente Position zu entwickeln, mit der man sich nicht andauernd selbst widerspricht?
Auf der „Jagd & Hund“ in Dortmund habe ich einen todesmutigen Selbstversuch gewagt: Ich bin zu der kleinen Schar von Demonstranten gegangen und habe jeden einzeln gefragt, was ein Abschussplan ist und wer den festlegt. Keiner hatte auch nur den Hauch einer Ahnung. Kein einziger.
Ideologen sind die größte Bedrohung für unsere Wildtiere und unsere Wälder.