Tichys Einblick
Der Berliner Patient

Existiert die Union nur noch aus Gewohnheit?

Während SPD, Grüne und Linke das Bundesverfassungsgericht nach ihren Vorstellungen formen wollen, verschanzt sich die Union hinter Plagiatsvorwürfen und politischer Feigheit. Die CDU ist eine Partei, die sich nur noch aus Gewohnheit selbst erhält und die vor der Machtfrage kneift.

picture alliance/dpa | Bernd von Jutrczenka

Die Koalition rutscht wegen der Wahl von drei Verfassungsrichtern in eine Krise, die keine Krise der SPD, sondern eine Krise der Union ist. Das ist nicht erstaunlich, denn auch das Land ist sowohl in der Krise als auch im Umbruch. Wenn man sich das Spiel der Linken (SED), Grünen und SPD mit wechselnden Rollen anschaut, wird deutlich, dass sie den legalistischen Putsch zur Macht vorantreiben, denn die Wahlergebnisse geben das nicht her.

Die Etappen auf diesem Weg sind das Verbot der AfD, die Besetzung aller Institutionen wie das Verfassungsgericht und aktive Hilfe für die Selbstmarginalisierung der Union. Marx und Engels paraphrasierend hatte Haßelmann im Bundestag geschrillt, nicht „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“, sondern: „Frauen dieser Republik, wehrt euch!“.

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Die SPD hat sich aus der Tradition von Kurt Schumacher, Willy Brandt und Herbert Wehner in die Tradition von Otto Grotewohl begeben. Trotz ihrer mageren Wahlergebnisse und ihres Bedeutungsverlustes treibt, ja jagt die SPD die Union. Die Unionsabgeordneten hätten wohl auch dann noch die SPD-Kandidatinnen für das Bundesverfassungsgericht mitgewählt, trotz ihrer staatsdirigistischen Leidenschaft und einer Neigung zur judikativen Diktatur, wenn Friedrich Merz am Donnerstag nicht den entscheidenden Fehler begangen hätte, sich explizit hinter die Positionen von Brosius-Gersdorf in der Abtreibungsfrage zu stellen.

Sein „Ja“ bedeutete für einige Abgeordnete ein Nein. Jetzt erst schlug er für eine wahrnehmbare Gruppe von Abgeordneten die Tür zu, auf Unkenntnis zu plädieren. Jetzt half auch kein Singen und kein Beten mehr, jetzt mussten sie Farbe bekennen. Doch wieder sandte die Union ein Zeichen der Schwäche an die Linke (SED), an die Grünen und an die SPD, indem sie nicht genau die Punkte benannte, weshalb Brosius-Gersdorf nicht wählbar ist, und zwar wegen folgender Positionen zu:

  1. Demokratie, Staatsautoritarismus und Grundrechtsentzug, inklusive Parteien- und Vereinsverbot;
  2. Aufkündigung der Neutralität des Staates und seiner Institutionen durch Aufhebung des Kopftuchverbots, wodurch die deutsche Rechtsprechung unter dem Kopftuch sukzessive zur Scharia werden könnte;
  3. Position in der Frage des Schwangerschaftsabbruchs, insbesondere die Trennung von Menschenwürde und Lebensschutz.

Obwohl bereits eine Position genügt, um Brosius-Gersdorf für ungeeignet als Verfassungsrichter zu halten, stahl sich die Unionsfraktion feige und unwürdig vom Platz, als sie sich hinter einen mehr oder weniger konsistenten Plagiatsverdacht verschanzte. Die Ergebenheitssignale und die Unterwerfungsgeste des Parlamentarischen Geschäftsführers der Union, Bilger, in der Bundestagsdebatte kamen bei der SPD an, wo man ohnehin weiß, dass Merz ein schwacher Kanzler ist, den man gern ins Ausland komplimentiert.

Übrigens spielte man guter Cop, böser Cop, wenn die Grünen und die Linken (SED) sich echauffieren, dass man sich nur peinlich abwendet, und die SPD den Beleidigten und Getäuschten gibt. Verfolgte Unschuld sind die Schuldigen immer. Was man aber in der vereinigten Linken erkannt hat, ist, dass man zwar eine handzahme Union besitzt, aber eben eine nicht vollkommen kontrollierbare Öffentlichkeit. Ab dieser Woche dürften die freien Medien zum Hauptfeind der Linken geworden sein. Es liegt in ihrer Natur und wurde mehrfach durch die Geschichte bestätigt, dass für Linke an der Regierung die Freiheit des Wortes zum Hauptfeind avanciert.

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Wenn sich nicht die Unionsfraktion klar positioniert in dieser Frage, dann werden Frauke Brosius-Gersdorf und Ann-Katrin Kaufhold Verfassungsrichter und das Grundgesetz wird bildlich gesprochen zur Verschlusssache. Die SPD hat bereits erklärt, dass sie die Kandidaten nicht zurückzieht, dass sie an Brosius-Gersdorf festhält. Ihre Begründung ist sogar stichhaltig, wenn sie den Grund der Ablehnung in Zweifel zieht. Die SPD und ihre Freunde in den Linken (SED) und bei den Grünen werden alles tun, um die Plagiatsvorwürfe auszumanövrieren, dann, wie sie es schon getan haben, die Union nötigen, Brosius-Gersdorf in der Fraktion zu befragen und schließlich wird bei so viel gutem Willen die Unionsfraktion einknicken, wie sie es immer tut, wenn Druck von links kommt.

Friedrich Merz ist ein schwacher Kanzler, der sich stark zu fühlen scheint, und vielleicht ist Friedrich Merz stark in der Welt von Friedrich Merz. Doch die Welt von Friedrich Merz ist nicht der deutsche Alltag, nicht das Leben der deutschen Bürger, der Mütter, Väter und Kinder dieses Landes, seine Welt ist nicht ein Land in multiplen Krisen, sondern die Welt von Friedrich Merz ist über den Wolken. Darunter soll sie, gemeint ist die SPD, doch machen, was sie will.

Probleme löst man nicht, indem man ins Ausland flieht, nicht durch Semantik oder Repression. Fragen der Verteilung und Umverteilung und des Tribalismus werden die deutsche Wirklichkeit zur Kampfzone machen. Kluge Politik geht die Probleme an, schafft einen Ausgleich. Doch für eine kluge Politik benötigt man Stärke, die mit Charakterstärke beginnt. Doch Stärke zeigt sich weder beim Kanzler, noch in der Fraktion.

Allen, die der Koalition ein vorzeitiges Ende prophezeien, können drei Weisheiten entgegengehalten werden, erstens: Totgesagte leben länger, zweitens: Macht ist der haltbarste Kitt, und drittens: Es existiert keine Machtoption im Brandmauerverlies.

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Gegen die erste Weisheit lässt sich einwenden, dass wir, um im Bild zu bleiben, hier eigentlich nicht von Totgesagten, sondern von einem Wachkomapatienten sprechen, dessen Lebensfunktionen von den Apparaten der Macht künstlich aufrechterhalten werden. Zweitens schützt der Kitt vor dem Auseinanderbrechen, nicht aber vor der Zeitlupenimplosion der Verinselung der Union, drittens stehen ihr gerade in dieser Macht-Konstellation immer weniger Handlungsoptionen offen.

Vielleicht ist es ja auch viel einfacher, vielleicht hat sich die Union nur einfach überlebt, so wie die FDP sich überlebt hat, weil weder die FDP in ihrem Queer-Wahn, noch die Union in ihrer Brandmauerblümchen-Existenz die Kraft aufgebracht haben, zu modernen bürgerlichen Parteien zu werden. Viele ihrer Wähler teilen insgeheim Positionen und Forderungen der AfD, die teils einmal Positionen der Union waren, doch von Merkel bei ihrem Grünputz einfach weggescheuert wurden. Diese Wähler hält nur noch das Schreckbild AfD bei der Union, von der sie wieder und immer wieder belogen und enttäuscht werden.

Merkel war die Kanzlerin der Mediokrität, rotgrüner Leistungsfeindschaft, die Kanzlerin eines mittelmäßigen politischen Personals, wie sie im Grunde auch mittelmäßig war, wie ihre Autohagiographie auf jeder Seite belegt. Sie war die Kanzlerin der Work-and-life-Balance, der Masseneinwanderung, des Lebens von der Substanz, sie war der fleischgewordene Geist der Bürokratie und der bürokratischen Herrschaft. Man hört jetzt immer wieder – auch mit Blick auf die Wahl der drei Richter für das Verfassungsgericht –, dass Angela Merkel das machtpolitisch wesentlich geschickter gelöst, das Thema schon im Vorfeld „abgeräumt“ hätte.

Diese Sichtweise besitzt den Mangel, dass sie ahistorisch ist, denn die gegenwärtige Union ist der Scherbenhaufen, den Merkel nach 18 Jahren Parteivorsitz hinterlassen hat. Sie lebte auch hier von der Substanz und hat die Substanz aufgebraucht. Zeigte sich in der Union doch einmal ein Talent, eine gewisse Eigenständigkeit, so „räumte“ Merkel die Personalie, die zum Problem hätte werden können, im Vorfeld ab. Die Union, die konturlos, ziellos, charakterlos durch die sich verändernde politische Landschaft tappt, ist Merkels Hinterlassenschaft, der Geist mittlerer Bürokratie ist hier Hausherr, nicht Politik, sondern Verwaltung.

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Diese Union weiß nicht mehr, wer sie ist, sie weiß nicht, was sie ist und wofür sie existiert, außer den Funktionären den Freitisch in den Hinterzimmern der Demokratie zu erhalten, sie setzt die Brille ab, bevor sie in den Spiegel schaut, während ihre Funktionäre von Sprechzetteln leben. Sie existiert nur noch aus Gewohnheit, aus schlichtem Beharrungsvermögen. Sie verschließt sich der Erkenntnis, dass sie eben nicht hinter der Brandmauer hockt, sondern dass sie die Brandmauer zwischen der AfD und der neuen „Volksfront“, der informell vereinigten Linken von Linke (SED), Grüne und SPD, selbst ist. Ihre Funktionäre spüren, dass sie zwischen den Grünroten und den Blauen zerrieben werden, und verdrängen ihre Existenzangst in markigen Worten gegen die AfD im peinlichen Verlangen, von Linken, Grünen und Sozialdemokraten im Vorbeigehen ein Lächeln zu erhaschen.

Man hört aus den Ausschüssen, dass sich Mitglieder von SPD und Union nicht gerade grün wären und es auf der Ebene der Abgeordneten zu Auseinandersetzungen käme, zu Szenen einer schlechten Ehe. Wäre die Unionsfraktion kein Versorgungsverein braver Parteisoldaten, würde sie kraftvoll auftreten, denn im Gegensatz zur SPD besitzt sie eine Machtoption. Sie kann jederzeit die Koalition verlassen, sie kann jederzeit eine Minderheitsregierung bilden und sich von der AfD tolerieren lassen. Die Geschichte wird der Union nicht verzeihen, wenn sie vor der Aufgabe desertiert, die sie ihr gestellt hat. Denn die Geschichte kann schnell und gründlich sein, eben noch im vermeintlichen Besitz der Macht, hat sich die Macht aus Gründen der unerträglichen Tristesse abgewandt. Die Macht liebt die Versager nicht. Angela Merkel war eine Dilettantin der Geschichte, Friedrich Merz ist ein Dilettant der Macht.

Noch kommt es auf die Union an, das ist eine einfache arithmetische Tatsache, aber nicht mehr lange. Sie kann sich erneuern oder à la longue verschwinden.


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