Tichys Einblick
Kein Bezug zur Wirklichkeit

Empathielos im Elfenbeinturm

Migration berühre den Alltag der meisten Menschen nicht, behauptet Katrin Göring-Eckardt. Die Grünen-Politikerin steht stellvertretend für eine Politikerkaste, die nicht nur den Bezug zur Wirklichkeit verloren hat, sondern deren Empathielosigkeit es ihnen völlig unmöglich macht, Politik als etwas anderes zu betrachten denn als Dienst an sich selbst.

picture alliance/dpa | Matthias Bein

Suchte man nach der Personifikation des politelitären Elfenbeinturms, fiele es wohl schwer, sich unter den aussichtsreichsten Kandidaten zu entscheiden. Heiße Anwärterin ist Katrin Göring-Eckardt, die schon einmal den richtigen Riecher dafür bewiesen hat, was der Realität in Deutschland am wenigsten entspricht: „Unser Land wird sich ändern und ich freue mich drauf“, sagte die Grünen-Politikerin, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und ehemalige EKD-Präses 2015.

Eine zutreffende Prognose: Auf die teils enthusiastische Aufnahme tatsächlich Hilfsbedürftiger wie auch jener, die als Trittbrettfahrer die Hilfsbereitschaft der Deutschen ausnutzten, folgte Ernüchterung:

Zum jahrzehntelang aufgehäuften Integrationsdefizit, das zum Teil Kinder von Einwanderern in zweiter und dritter Generation umfasst, wurde akut weiterer Integrationsbedarf gehäuft, der sich nicht bewältigen lässt. Aber Menschen wie Göring-Eckardt, die Weltfremdheit und Naivität kurzerhand als Nächstenliebe und zur Pflicht deklarierten, leben weiterhin in einem bunten Land, in dem der Islamist zum Feministen wird, sobald er mit den Segnungen der Zivilisation in Berührung kommt und von Menschen wie Göring-Eckardt belehrt und angeleitet wird.

Der Kombination aus entkerntem Christentum, das in Form von „christlichen Werten“ dahinvegetiert, aber noch eine ganze Menge fehlgesteuertes Sendungsbewusstsein aufweist, Pseudointellektualität und Wohlstandsverwahrlosung ist kaum beizukommen: Zu überzeugt sind die Vertreter dieses Weltbildes von der eigenen Güte und moralischen Überlegenheit, und zu leicht ist es ihnen, Nöte und Sorgen, die sie nicht – oder zumindest seit Jahrzehnten nicht mehr – kennen, zu übersehen.

Nun setzte Göring-Eckardt mitten im Wahlkampf noch einen drauf und beweist damit vollumfängliche Abkopplung von der Realität: „Ich glaube, das hat mit dem Alltag der Menschen verdammt wenig zu tun“, ließ sie bei Hart aber Fair verlauten – mit „das“ meinte sie die Migration.

Katrin Göring-Eckardt glaubt das wirklich. Sie ist davon überzeugt, dass die meisten Menschen in Deutschland mit den Problemen, die Migration mit sich bringt, nicht in Berührung kämen, und sich lediglich von „Rechten“ aufhetzen ließen.

So sieht ideologische Verblendung aus. Ganz gleich, was Wahlergebnisse oder Umfragen sagen, die oberlehrerhafte Attitüde einer Göring-Eckardt weiß es besser; ganz egal, was die Menschen selbst sagen, sie weiß, was sie wirklich bewegt. Als wäre das Wahlvolk unmündig und weder dazu in der Lage, die eigene Situation einzuschätzen, noch, die eigene Meinung zu verbalisieren.

Dabei wäre die Beobachtung, dass Integration häufig gelingt, nicht von der Hand zu weisen. Nur macht das keinen einzigen Fall nicht gelungener Integration ungeschehen oder irrelevant.

Göring-Eckardt aber kann so tun, als bestünden keine relevanten Probleme, weil sie sich den Veränderungen, auf die sie sich gefreut hat, entziehen kann: Die Konkurrenz um Lebensmittel der Tafel, bezahlbaren Wohnraum, Arzttermine und soziale Vergünstigungen bekommt sie nicht mit. Die Unsicherheit im öffentlichen Raum oder den Umgang miteinander auf dem Schulhof muss sie nicht erfahren. Was kümmert sie das Leid derjenigen, die Angehörige verloren haben durch Terroranschläge oder Messergewalt? Was ist mit dem Anstieg sexueller Übergriffe durch migrantische Täter? All das hat unser Land verändert – aber angeblich nicht so, dass es echte Auswirkungen hätte?

Allerdings sitzen viele Migrationskritiker dem Irrtum auf, Grünen und anderen Migrationsromantikern ginge es um die Interessen der Einwanderer. Das ist verständlich, schließlich wird jeder, der Zweifel anmeldet, als Rassist und Fremdenfeind diffamiert. So entsteht der Eindruck, es handele sich um einen Problemkomplex, bei dem einander entgegengesetzte Interessen – jene der Einheimischen und jene der Einwanderer – einander gegenüberstünden.

Das ist allerdings nicht der Fall. Migrationsromantiker vertreten nur ihre eigene Sache. Ihnen fehlt nicht nur die Fantasie, um die Probleme der deutschen Bevölkerung zu erkennen. Auch gegenüber jenen, die gekommen sind, zeigen sie sich völlig ignorant. Auch deren Bedürfnisse zählen nicht.

Wenn Göring-Eckardt behauptet, Migration habe mit dem Alltag der Menschen wenig zu tun, schließt sie ja die Menschen mit Migrationshintergrund in diese Aussage ein, die schließlich einen nicht zu vernachlässigenden Teil der deutschen Gesellschaft bilden, viele von ihnen als deutsche Bürger. Und viele von ihnen, gerade jene, die sich integriert und etwas aufgebaut haben, leiden weithin unsichtbar unter einer zunehmend polarisierten Debatte, unter der Spaltung der Gesellschaft, die ihnen die neue Heimat zu rauben droht. Aber das ficht Göring-Eckardt nicht an. Sie treibt genau diese Spaltung weiter an.

Die Bildungskatastrophe, die Kinder mit Migrationshintergrund noch härter trifft als Kinder ohne einen solchen, tangiert sie nicht. Parallelgesellschaften, die unbehelligt Frauen und Mädchen von Teilhabe an der Gesamtgesellschaft ausschließen? Kein Thema. Die Überforderung der Kommunen mit der Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen? Vernachlässigbar. Dabei stehen auch hier hinter den Zahlen echte Menschen: die usbekische Ärztin, die ihren Sprachkurs abbrechen muss, weil mit Ankunft der Ukrainer diese bevorzugt werden und nicht genügend Kapazitäten für alle bestehen; die eritreischen Flüchtlinge, die sich im ländlichen Raum wiederfinden, wo selbst deutsche Zugezogene mitunter Probleme haben, Anschluss zu finden; die Mädchen, die nicht am Schwimmunterricht oder an der Klassenfahrt teilnehmen dürfen: All das hat angeblich keine Alltagsrelevanz. Stimmt, weil es den Alltag von Frau Göring-Eckardt und ihrer Gesinnungsgenossen nicht berührt.

Und das ist der eigentliche Kern einer solchen Realitätsverachtung: Wer so denkt, kann und will sich die Bedürfnisse anderer Menschen nicht vorstellen. Deshalb gibt es deren Bedürfnisse nicht. Migration berührt den eigenen Alltag nicht. Also hat sie auch im Leben der anderen Menschen in diesem Land keine Bedeutung. Das hat mit Menschenfreundlichkeit nichts zu tun. Das ist völlige Empathielosigkeit.

Leider ist nicht zu erwarten, dass die Wahlergebnisse, die derart wirklichkeitsfremde Politiker einfahren werden, an einer solchen Haltung etwas ändern werden. Zu viele wandelnde Elfenbeintürme in diesem Land haben sich völlig von den Bedürfnissen der Menschen abgewandt. Und ihr Problem besteht nicht zuerst darin, dass sie illusorischen politischen Zielen anhängen oder einer falschen Ideologie. Das größte Problem ist, dass hier Menschen Politik betreiben, denen entscheidende menschliche und persönliche Qualifikationen fehlen, um dem Gemeinwohl zu dienen, und die Politik zuerst als Dienst an sich selbst betrachten.

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