Tichys Einblick
Ozempic und Wegovy

Eine Spritze gegen Fett – aber nicht gegen die Ursachen von Übergewicht

Ärzte und Journalisten stellen die Abnehmspritze des Pharma-Konzerns Novo Nordisk als „Wundermittel“ dar. Dabei warnen einige Experten vor negativen Folgen, statt nachhaltiger Effekte. Es gibt eigentlich nur einen Gewinner.

picture alliance/dpa | Jens Kalaene

Kaum ein Medikament ist derzeit mehr im Trend als die „Abnehmspritze“ der Firma Novo Nordisk mit dem Wirkstoff Semaglutid. Sie wurde vor allem unter dem Namen Ozempic bekannt, das eingesetzt wird, um Diabetes zu behandeln. Mittlerweile hat die Europäische Union sie jedoch auch unter dem Namen Wegovy zugelassen, um Übergewicht zu behandeln. Die Medikamente wirken im Wesentlichen gleich, sie haben bloß zwei verschiedene Namen und werden anders dosiert.

Allerdings schafft es die dänische Firma Novo Nordisk seit Monaten kaum, die hohe Nachfrage nach der berühmten Abnehmspritze zu decken, wie mehrere Medien berichten: Es sind demnach längst nicht mehr nur Übergewichtige oder Diabetiker, die sich den Effekt der Spritze zunutze machen. Auch Menschen wie Tesla-Chef Elon Musk, die augenscheinlich kein krankhaftes Übergewicht haben, nutzen es, um abzunehmen. Musk hat sich jedenfalls offiziell dazu bekannt. Zwar muss nach dem Gesetz ein Arzt das Medikament verschreiben, aber in der Praxis kommen eben doch auch jene Menschen daran, denen das Medikament eigentlich nicht verschrieben werden dürfte: durch einen befreundeten Arzt, ein gefälschtes Rezept – oder manchmal auch nur eine Suche auf Ebay-Kleinanzeigen.

Viele Menschen wollen die Spritze haben, um auf einfache Weise ein paar unerwünschte Kilos und Speckröllchen loszuwerden, statt müßig die Ernährung umzustellen und mehr Sport zu machen. Und viele sind zufrieden, wie in Kommentaren auf X zu lesen ist. Denn das Medikament wirkt zunächst effektiv und ohne viel Nerverei:

Einmal wöchentlich spritzt man sich den Wirkstoff Semaglutid in die Bauchfalte und – taratata – schon purzeln die Kilos. Das Medikament ahmt das Darmhormon GLP-1 nach. Dieses regt die Bauchspeicheldrüse nach einer Mahlzeit an, Insulin freizusetzen, wodurch der Blutzucker gesenkt wird. Außerdem sorgt das Medikament dafür, dass der Magen die Nahrung länger hält, wodurch man länger satt bleibt. Zudem sorgt das Semaglutid dafür, dass am Hippothalamus einen Botenstoff ausgeschüttet wird, der ein zusätzliches Sättigungsgefühl auslöst. Insgesamt sinkt somit die Lust, etwas zu essen. In den Zulassungsstudien des Medikaments konnten die Probanden auf diese Weise 16 bis 21 Prozent ihres Körpergewichts verlieren.

Das klingt praktisch. Ist es auch. Aber es ist nicht die ganze Wahrheit. In den vielen Artikeln, in denen die Autoren das Medikament in den siebten Himmel loben und betonen, dass es womöglich auch gegen andere Krankheiten wie etwa Arthritis, Alkoholsucht, Leberschwäche und Herz-Kreislauf-Erkrankungen helfen könnte, schreiben sie zwar, dass die Abnehmspritze allein nicht ausreiche: Wer abnehmen wolle, müsse auch Sport treiben und seine Ernährung umstellen. Aber eines erwähnen die Autoren selten: In der STEP 4-Studie die Novo Nordisk selbst bei der Zulassung eingereicht hat, beobachteten die Forscher beispielsweise einen Jo-Jo-Effekt, sobald die Probanden das Medikament absetzten.

Das verlorene Gewicht kam nach einer gewissen Zeit also wieder zurück. Auch Andreas Klinge von der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft bestätigt gegenüber der Tagesschau, dass adipöse, also pathologisch fettleibige, Patienten das Medikament dauerhaft – also lebenslang – einnehmen müssten. Sobald die Spritze abgesetzt würde, kämen die verlorenen Kilos schnell wieder auf die Hüften zurück, sagt er. Logisch: Denn dann wird das Hungergefühl nicht mehr blockiert. Die psychischen Ursachen der Krankheit behandelt das Medikament ohnehin nicht. Eine nachhaltige Gesundung aus psychologischer Sicht kann Wegovy also nicht bedeuten.

Übergewicht als Schutzmantel von emotionalem Schmerz

Die Abnehmspritze löst nämlich nicht die tieferliegende Ursache, die aus Sicht der Psychologie zu Übergewicht führt: Wie zahlreiche wissenschaftliche Studien und Berichte zeigen, ist Übergewicht bis hin zur Adipositas sehr viel komplexer als bloß eine Gleichung von Kalorienzufuhr und Kalorienverbrauch.

Viele Psychoanalytiker und Psychodynamiker stützen sich in ihren Vermutungen zum Beispiel auf die Theorien der deutsch-amerikanischen Ärztin Hilde Bruch: Sie meinte, dass Übergewicht eine Folge von einer fehlgeschlagenen Interaktion zwischen Mutter und Kind sei. Das bedeutet, dass eine Mutter die Bedürfnisse ihres Kindes nicht adäquat wahrnehme, beziehungsweise nicht differenziert darauf antworte. So kommt es laut dem Fachbuch „Psychotherapie der Essstörungen“ dazu, dass das Kind zwar satt ist, aber keinen befriedigenden oder bestätigenden Kontakt zur Mutter aufbauen kann. Das Kind erlebe somit keine emotionale Sicherheit und könne als Folge keine unterschiedlichen Vorstellungen über verschiedene innere Zustände entwickeln: Also ob es nun hungrig oder satt ist, beziehungsweise genug bekommen hat. Das Kind stehe diesen Gefühlen und Impulsen des Körpers verwirrt und ohne Halt der Mutter gegenüber. Entsprechend sei auch die Regulation des Hungergefühls gestört.

Diese Sichtweise deckt sich mit der psychosomatischen Ursache von Übergewicht und Adipositas. Der Physiotherapeut und Ernährungsberater Aaron Jurenka betreibt eine ganzheitliche Praxis für Gesundheit und Symptombedeutung. Er schreibt auf seiner Internetseite, dass ein Kind, das übergewichtig ist, seine Mutter im Inneren verweigert. Über das Körperfett baue das Kind dann eine äußere Distanz zur Mutter auf. Eine solche Distanz sei für ein Kind sehr schmerzhaft. Diesen emotionalen Schmerz, die damit verbundene innere Leere und das Gefühl, nicht gesehen zu werden, überbrückt das Kind laut Jurenka dann über das Essen: „Das Gefühl der Einsamkeit, der Trauer und der Angst ist kurzfristig ausgeglichen. Es entsteht ein Gefühl von genährt werden, ernährt werden und Liebe empfangen“, schreibt Jurenka auf seiner Internetseite.

Die so entstehende Störung des Essverhaltens werde dann häufig durch die Umwelt, in der ein Kind aufwächst, gefördert: Beispielsweise, wenn die Eltern Essen einsetzen, um ihr Kind zu belohnen oder zu bestrafen, statt sich ihrem Kind emotional zuzuwenden. Wie Fachbücher der Psychologie erklären, können auch starre Verhaltensregeln und Glaubenssätze dazu beitragen, dass sich eine Essstörung wie Adipositas verfestigt: „Was auf den Tisch kommt, wird gegessen“ oder „Iss auf, dann scheint morgen die Sonne“, sind nur wenige Beispielsätze dafür.

Mehrere Studien konnten zudem feststellen, dass eine Teilgruppe Adipöser in ihrer Kindheit emotional vernachlässigt, missbraucht oder misshandelt wurde. Das ist eine zutiefst traumatisierende Erfahrung. Und einige Betroffene nutzen das gestörte Essverhalten dann zum Beispiel als Schutzmechanismus vor emotionalen Verletzungen oder weiteren Misshandlungen, wie die Autoren des Fachbuchs „Psychotherapie der Essstörungen“ schildern.

Das übermäßige Essen dient also als Lösungsstrategie für mehr oder weniger traumatische Erfahrungen oder enttäuschende Beziehungen in der Kindheit. Wie die Autoren in „Psychotherapie der Essstörungen“ schreiben, erfüllt das übermäßige Essen bei Adipösen eine emotionale Funktion: Es reduziert demnach Unlustgefühle und Spannungen, zum Beispiel Nervosität, Angst, Einsamkeit und Langeweile, aber auch Gefühle wie Zorn.

Betroffene müssen diese Ursachen und Gefühle, die zu ihrer Essstörung führen oder diese verstärken, erkennen und sie als Lösungsstrategie anerkennen sowie daran arbeiten. Erst dann kann laut Therapeuten wie Jurenka eine nachhaltige Gewichtsabnahme erreicht werden. Diese Arbeit kann eine Abnehmspritze wie Wegovy nicht leisten.

Ein riesiger Markt und hohe Gewinne für Novo Nordisk

Stattdessen entsteht für Novo Nordisk ein riesiger Markt – ganz im Sinne einer wirtschaftlichen Nachhaltigkeit: Allein in Deutschland gibt es laut „Techniker Krankenkasse“ etwa 8,5 Millionen Menschen mit der Diagnose Diabetes mellitus. Jedes Jahr bekommen ungefähr 600.000 weitere Menschen diese Diagnose. In dieser Gruppe findet die Ozempic-Arznei breite Anwendung. Hinzu kommen die vielen Übergewichtigen einschließlich Adipösen, von denen immer mehr zu Wegovy greifen, wie mehrere Medien wie die Tagesschau berichten.

Das Robert Koch Institut meldet, dass 2019 und 2020 knapp 47 Prozent der Frauen und 60 Prozent der Männer in Deutschland übergewichtig waren. Fast ein Fünftel der Erwachsenen weisen eine Adipositas, also einen Body-Mass-Index größer als 30 auf.

Und günstig ist die Spritze für all diese Menschen nicht: In Deutschland kostet Wegovy laut MDR mehr als 300 Euro pro Monat – das ist fast doppelt so viel wie Ozempic. Entsprechend konnte Novo Nordisk seinen Börsenwert seit 2020 mehr als verdreifachen und besitzt derzeit einen Gesamtwert von rund 281 Milliarden US-Dollar (Stand: 08.01.2025), wie „Wallstreet Online“ meldet. Im Vergleich: Die Deutsche Telekom als wertvollstes deutsches Unternehmen hat laut „Wallstreet Online“ gerade einmal eine Marktkapitalisierung von rund 144 Milliarden Euro (Stand 08.01.2025) – also knapp der Hälfte.

Es ist gut möglich, dass Novo Nordisk seinen Marktwert noch weiter steigern kann. Zum einen, weil der Trend um die Abnehmspritze schon seit mehreren Jahren anhält: Beispielsweise sagte Andreas Klinge, Diabetologe in Hamburg und Vorstandsmitglied der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, gegenüber der Tagesschau, dass bei ihm kein Tag mehr vergehe, an dem nicht mindestens vier oder fünf Patienten nach der Abnehmspritze verlangten.

Zum anderen hat Novo Nordisk eine Studie in den USA finanziert, in der Kinderärzte das Abnehmmittel mit einem anderen, aber ähnlichen Wirkstoff namens Liraglutid bei stark übergewichtigen Kindern im Alter von sechs bis zwölf Jahren untersucht haben.

Die Ergebnisse wurden im „New England Journal of Medicine“ veröffentlicht und zeigten: Die Abnehmspritze wirke auch in dieser Altersgruppe. Dadurch versprechen sich einige Ärzte, dass chronische Krankheiten, die auf Übergewicht zurückzuführen sind, seltener werden: Also beispielsweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Leber- und Nierenbeschwerden.

Fachleute rechnen daher nun auch mit einer Zulassung des Medikaments für Kinder ab sechs Jahren, wie die Süddeutsche Zeitung berichtet. Eine weitere Studie an Kindern wird gerade am Uniklinikum in Ulm mit dem Wirkstoff Semaglutid durchgeführt. Mit Ergebnissen sei in diesem Jahr zu rechnen. Wenn der Wirkstoff schon an Kinder ab sechs Jahren vergeben wird, kann Novo Nordisk seinen Kundenkreis noch weiter ausbauen.

Kritiker des Medikaments sehen darin auch eine Gefahr, beispielsweise der Kinderarzt Roy Kim an einer Kinderklinik in Cleveland: Gegenüber dem US-Sender NBC sagt er, dass die Spritzen womöglich das Wachstum hemmen. Generell bestehe die Sorge, dass sich unerwartete Langzeiteffekte zeigen könnten, wenn Menschen bereits ab dem Kindesalter regelmäßig ein solches Medikament nehmen, wie das Magazin „Watson“ berichtet. Welche das sein könnten, sei derzeit noch unklar.

Nebenwirkungen und Langzeitfolgen der Abnehmspritze

Generell sind die Langzeitfolgen des Lifestyle-Medikaments noch ungewiss, weil es noch nicht lang auf dem Markt ist: Zuerst war die Spritze in den USA zu haben, in Deutschland kam Ozempic 2018 und Wegovy 2023 auf den Markt und ging anschließend in den Medien „viral“.

Allerdings zeigen sich bereits einige unerwünschte und teilweise lebensbedrohliche Nebenwirkungen, wie zumindest mehrere Medien wie die Augsburger Allgemeine berichten: Zu den Folgen zählen demnach Übelkeit, Schwindel, Erbrechen und Durchfall. Manchen Patienten fielen vor lauter Erbrechen sogar die Zähne aus, wie blue News berichtet. Die European Medicine Agency (EMA) schreibt in einem Bericht außerdem von gravierenderen Nebenwirkungen: Als „gelegentliche Nebenwirkung“, die also bei weniger als einem von 100 Patienten und mehr oder gleich einem von 1000 Patienten vorkommen, gilt beispielsweise die „akute Pankreatitis“, eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse.

Auch das Krebsrisiko, insbesondere für Schilddrüsenkrebs, könnte erhöht sein, berichtet die Augsburger Allgemeine. Auch Suizidgedanken und Selbstverletzungen werden mit dem Medikament in Verbindung gebracht, wie der MDR berichtet. Die Ärztin Annette Greisinger macht auf X zusätzlich darauf aufmerksam, dass das Medikament zu Entzündungen der Gallenblase und zu Gallensteinen, zu Nierenfunktionsstörungen und zu einem „massiven Abbau der Muskulatur im Körper und vor allem auch im Gesicht“ führen kann.

Insgesamt ist noch ungewiss, welche Nebenwirkungen tatsächlich ursächlich auf die Abnehmspritze zurückgeführt werden können. Aber dementsprechend kann bis dato nicht ausgeschlossen werden, dass es diese kausalen Zusammenhänge gibt. Außerdem wurde das Medikament für Adipöse und Diabetiker zugelassen, nicht aber für Menschen, die diese Krankheiten nicht haben, wie Adipositas-Experte Andres Acosta von der Mayo Clinic in Minnesota betont. Daher warnt er vor sogenannten Off-Label-Verschreibungen an Menschen, die einfach nur ein bisschen abnehmen wollen: „Wir wissen schließlich gar nicht, was diese Medikamente mit ihrem Körper anstellen, wenn sie die Krankheit gar nicht haben“, sagt er gegenüber der Tagesschau.

Trotz dieser Warnungen und unklaren Nebenwirkungen nutzt die breite Bevölkerung das Medikament bereits als „Wundermittel“. Das ist besorgniserregend. Vor allem auch, weil die psychologischen Gründe für Übergewicht oder gar eine Essstörung durch solch ein „Wundermittel“ noch weiter in den Hintergrund rücken als ohnehin schon. Denn diese Ursachen lassen sich nicht einfach „wegspritzen“, und suchen sich dann womöglich ein neues Ventil.

Anzeige
Die mobile Version verlassen