Die Kultur in muslimischen Staaten basiert auf dem Koran, der als reines Wort Gottes angesehen wird. Der Koran ist kein einheitlicher geistiger Block. Er ist in 22 Jahren von 610 bis 632 entstanden und spiegelt die geistig-religiösen Entwicklungen wider, die Mohammeds Überzeugungen in dieser Zeit genommen haben.
Man muss differenzieren zwischen:
- Suren, die in der frühen Zeit in Mekka entstanden sind, als Mohammed mit seinen Lehren um erste Erfolge warb („Mekka-Suren“), und
- Suren, die nach Mohammeds Auswanderung in Medina ihren Sitz haben, wo Mohammed der politische Durchbruch seiner Lehre gelang („Medina-Suren“).
In den frühen Suren warb Mohammed um die Gewinnung der Juden durch vielfaches Entgegenkommen:
- Die Juden wurden geehrt als Besitzer der heiligen Schriften; die Thora wurde von Mohammed als göttliche Schrift anerkannt (vgl. Sure 3,3).
- Mohammed berief sich auf viele jüdische Vorväter, die er als Propheten ansah (Abraham, Mose, David, Jona); Muslime sollen an die jüdischen Gesandten glauben. Mohammed war davon überzeugt, die alte, einmalige, reine, allumfassende, richtige Religion wiederherzustellen.
- Mohammed hat mit seinen Anhängern in Richtung Jerusalem gebetet (vgl. Sure 2,142-143).
- Palästina ist das Land, das Gott den Juden zum Erbe gegeben hat: Dann sprach Allah zu den Kindern Israels: „Siedelt euch (dort) auf dem Land an!“ (Sure 17,104)
Die Juden in Medina schlugen solches Entgegenkommen aus, sei es aus religiösen oder aus politischen Gründen. Dies führte zu einem tiefgreifenden Wandel der Politik des Propheten gegenüber den Juden:
- Mit dem sich neu entwickelnden muslimischen Ramadanfasten (vgl. Sure 2,183-187) grenzt man sich vom jüdischen Fasten am Versöhnungstag ab.
- Die Kaaba in Mekka wurde zur verbindlichen Gebetsrichtung der Muslime erklärt (vgl. Sure 2,142-143).
- Das Verbleiben der Juden in Medina wurde in Frage gestellt. Nach Mohammeds Sieg über Mekka wurden die beiden jüdischen Großfamilien „Banu Qainuqua“ und „Banu n-Nadir“ aus Medina vertrieben (Sure 59,2).
- Unter der Führung Mohammeds wurde der letzte große jüdische Clan in Medina, die „Banu Quraiza“, der sich vertraglich mit Mohammed verbündet hatte, schonungslos niedergemetzelt (Sure 33,26-27). Über 500 Männer wurden getötet; die Frauen und Kinder wurden als Sklaven verkauft. Es ist zwischen Islamkritikern und Islamverteidigern umstritten, ob diese jüdische Großfamilie entgegen der offiziellen Verträge in Bestrebungen gegen Mohammed verstrickt war.
- Die Juden, die nicht an Mohammed als Siegel der Propheten glauben, werden zu „Ungläubigen“ erklärt (vgl. Sure 5,16-18). „Ungläubige-Kuffar-Ketzer“ ist ein Lieblingswort der muslimischen Terroristen, mit denen sie ihre Gewalttaten begründen: „Wahrlich, ich werfe Schrecken in die Herzen der Ungläubigen. So haut auf ihre Nacken ein und haut ihnen auf die Finger“ (Sure 8,12).
- Der Kampf gegen die Juden förderte die Ausbildung einer eigenständigen religiösen Identität des jungen muslimischen Gemeinwesens.
Welche Koranstellen haben die größere Bedeutung, die judenfreundlicheren aus der koranischen Mekka-Frühzeit oder die späteren judenfeindlichen Medina-Suren?
Christliche Kirchen, die ideologisch-fundamentalistisch auf die Anbiederung mit dem Islam fixiert sind, verweisen zur Verteidigung des Islams wohlwollend auf die judenfreundlichen Stellen.
In der klassischen muslimischen Theologie hingegen gibt es die „Lehre der Abweichung“, der zufolge die älteren Koranverse nicht mehr gültig sind, sofern sie von jüngeren Koranversen ersetzt und korrigiert werden. Diese Lehre stützt sich auf Sure 2,107: „Welches Wort Wir auch aufheben oder dem Vergessen anheimgeben, Wir bringen ein besseres dafür oder ein gleichwertiges. Weisst du nicht, dass Allah die Macht hat, alles zu tun, was er will?“ Nach dieser klassich-muslimischen Auslegungsregel haben die späteren judenfeindlichen Koranverse höheres Gewicht und Autorität.
Der Freiburger Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi setzte bei seinem Thesenanschlag an die Berliner Dar-as-Salam-Moschee zugunsten einer „Reform des Islam. 40 Thesen“ (2017) genau an diesem Punkt an: Die radikalen gewaltverherrlichenden Koranverse in den Medina-Suren dürfen von den gemäßigten Muslimen nicht mehr verharmlost oder ignoriert werden. Stattdessen müssen sie mithilfe der älteren Mekka-Suren radikal kritisiert und überwunden werden. Solange dem Islam das aus sich heraus nicht gelingt, behält er die Tendenz, eine Kultur und Religion der Gewalt, des Schreckens und des Judenhasses zu sein.
Eine nachhaltige Normalisierung des Verhältnisses muslimischer Staaten zu Israel braucht im Kern eine theologische Neubesinnung in der Auslegung des Korans in Anlehnung an die Mekka-Suren.