Wahlen sind optimistische Rituale. Der Bürger huldigt dem Glauben, mit seiner Stimme die Dinge ändern zu können. Wahlen gehorchen der großen Illusion, dass Wandel möglich durch Abstimmung sei. Ohne diese Illusion kann Demokratie nicht funktionieren. Falls sie überhaupt funktioniert. Das ist das Paradox, mit dem wir leben müssen.
I.
Wenn schon kein Wandel, dann doch wenigstens ein Wechsel! Schön wär’s. Wenn am kommenden Sonntag gewählt ist, wird mindestens eine der Parteien, die das Land denkbar schlecht regiert haben, wieder mitregieren. Abgesehen davon, dass die wahrscheinlichen Wahlgewinner, die Unionsparteien, nicht gerade unschuldig sind am Zustand dieses Landes. Aber das muss nicht zwingend bedeuten, dass es weitergeht wie bisher. Dafür sorgt schon das Trumpeltier im Porzellanladen, ob es uns gefällt oder nicht. Auch der objektive Druck der Probleme bewirkt mehr als die Wahlen. Ob Rot oder Grün: Selbst die werden nicht weitermachen können wie bisher.
II.
Was nun? Szenario 1: Ein Mitte-Links-Bündnis unter Merz kommt zustande, mit Luschen wie Lauterbach und Esken oder Habeck und Bärbock im Kabinett. Mit solchen Leuten darf Merz sich herumschlagen. Sein Kabinett scheitert an den Herausforderungen in zwei oder drei Jahren. Dann kommt es zu vorgezogenen Neuwahlen und davor schon zum Austausch des Führungspersonals. Eine weitere Illusion: Wer soll es denn machen? Es fehlt an qualifiziertem Nachwuchs in allen Parteien. Die von der Funktionärskaste deformierte Parteiendemokratie bringt nichts Besseres zustande. Viele Wähler hoffen auf österreichische Verhältnisse – also auf ein Rechts-Mitte-Bündnis. Aber das gibt es ja neuerdings nicht mal mehr in Österreich.
III.
Szenario 2: Eine Koalition unter Merz findet auch nach vier, fünf Monaten Verhandlungen nicht zusammen, weil sich die Beteiligten über die Verteilung der Posten nicht einigen. Das wären dann wirklich österreichische Verhältnisse. Dann kriegen wir Neuwahlen schon binnen eines Jahres. Es wäre keineswegs ausgemacht, dass die AfD danach eine Regierung bilden könnte. Vielleicht kriegen wir danach auch eine linke Volksfront. Den Deutschen ist alles zuzutrauen.
IV.
Szenario 3: Die mir sympathischste Lösung wäre eine Minderheitsregierung. Sie widerspricht zwar dem deutschen Ordnungssinn, wäre aber besser als ständige Koalitionsquerelen. Offene Abstimmungen wären die Vorraussetzungen dafür, also auch mit Stimmen aus den Reihen der AfD.
V.
Vor zwanzig Jahren, passend zur Bundestagswahl, die Gerhard Schröder verlor und Angela Merkel gewann, schrieb ich ein Buch mit dem süffisanten Titel „Dann wählt mal schön! Wie wir unsere Demokratie ruinieren“, damals ein Bestseller. Es handelte von der „Bürgerverdrossenheit der Politiker“ und von der Politikerverdrossenheit der Bürger, die inzwischen umschlägt in Demokratieverdrossenheit. So weit ist es gekommen. Doch hat diese Demokratie 16 Jahre Merkel und 3 Jahre Ampel überlebt – und ist immer noch nicht ganz ruiniert. Und noch immer das desillusionierende Gefühl, dass die Wahl, wie auch immer sie ausfällt, wenig Einfluss haben wird auf die Politik der Republik.
VI.
Ein paar Bücher und Wahlen weiter hat sich an der Analyse nichts geändert. Doch, etwas hat sich verändert: Dieses Land ist in einem noch ungleich schlechteren Zustand, gerade weil sich nichts am Wesen und Unwesen der deutschen Art, Politik zu betreiben, geändert hat. Das Land fiel dramatisch zurück. Es kann weder seine äußere noch seine innere Sicherheit garantieren, die Wirtschaft schmiert ab, der Wohlstand sinkt, die Sozialsysteme sind nicht zukunftsfest, das Bildungssystem lahmt, die Infrastruktur bröckelt dahin. Wir sind einen guten Schritt näher am Abgrund.
VII.
Das alte Buch endete mit dem alles in allem optimistischen Satz, der dennoch immer stimmt: „Dann wählt mal schön und verliert trotzdem nicht das Vertrauen in die Demokratie. Sie kann nichts dafür. Wir selbst sind es, die sie ruinieren.“