Tichys Einblick
Helds Ausblick – 9/2023

Die arabisch-islamische Welt am Scheideweg

Soll die Entwicklung des gesamten Nahen Ostens von einer definitiven Lösung des Palästina-Konflikts abhängen? Damit würden die realen Fortschritte vieler Länder aufs Spiel gesetzt.

12. November Istanbul: Palästina-Unterstützer, die zum Deutschen Brunnen auf dem Sultanahmet-Platz gingen, schwenkten palästinensische Flaggen

IMAGO

In diesen schlimmen Tagen, in denen ein Angriffskrieg gegen Israel und ein neuer Völkermord an den Juden zu einer realen Gefahr geworden ist, ist es wichtig, den Blick etwas zu weiten und ihn auf die Gesamtheit der arabisch-islamischen Welt zu richten. Dies soll nicht geschehen, um einen Gesamt-Schuldigen zu suchen, sondern um an die Fortschritte zu erinnern, die diese Welt in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gemacht hat. Die jetzige Radikalisierung der Palästina-Frage droht, alle diese Fortschritte zu verschlingen. Man muss von einer dramatischen Verengung sprechen – von einem Kurzschluss, der die Entwicklungsanstrengungen der gesamten Region entwertet.

Mit dem Vernichtungsfuror dieses Überfalls sollte der Eindruck erzeugt werden, man könne mit den Mitteln des Terrors den Zusammenhalt von Staat und Gesellschaft in Israel sprengen und eine Dynamik auslösen, die dann zu einem definitiven „Sieg“ über alles jüdische Leben im Nahen Osten führen soll. Eine solch zerstörerische Wendung der arabisch-islamischen Rolle in der Welt scheint, zumindest in diesem historischen Augenblick, bei einem Teil der Bevölkerung Zustimmung zu finden.

Man ist sich der Gefahr eines verheerenden „Palästina-Kurzschlusses“ des Nahen Ostens nicht bewusst. Umso wichtiger ist es, an das zu erinnern, was in einem größeren Kreis von arabisch-islamischen Ländern auf dem Spiel steht. Dabei muss man auch denen widersprechen, für die „Arabisch“ und „Islam“ von vornherein nur etwas Minderwertiges und Böses bedeutet. Aber die Länder und Menschen dieser Region haben schon gezeigt, dass sie sehr wohl zu umsichtigen Entscheidungen und guten Entwicklungen fähig sind. Deshalb ist es ein echter Scheideweg, an dem die arabisch-islamische Welt jetzt steht.

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Die arabisch-islamische Welt zwischen Fortschritt und Krise Es ist noch gar nicht so lange her, dass verschiedene arabische Staaten ihren Frieden mit Israel machten und es zu Kooperationen im gemeinsamen Interesse kam. Die Palästina-Frage war nicht gelöst (und sie ist auf absehbare Zeit wohl auch nicht lösbar), aber die Bedeutung dieser Frage schien sich relativiert zu haben. Sie hinderte die verschiedenen Staaten nicht mehr daran, ihre eigenen Entwicklungsinteressen zu verfolgen.

Lange Zeit hatte das Feindbild Israel vielen Regierungen im Nahen Osten als Alibi gedient, um von der wirtschaftlichen Stagnation und von der Erstarrung der Machtverhältnisse im eigenen Land abzulenken. Aber das hatte sich in den letzten Jahren geändert. Das lag auch daran, dass sich der Fokus der Regierenden auf die eigene Entwicklung ihrer Länder verschoben hatte. Man suchte neue wirtschaftliche und kulturelle Betätigungsfelder, insbesondere auch in den stark vom Erdöl-Export abhängigen Ländern (Katar, Saudi-Arabien). Andere Länder wie Marokko oder die Türkei machten Fortschritte bei der Diversifizierung ihrer Industrie und der Stärkung ihrer Rolle im internationalen See- und Luftverkehr. Und es kam zu gewissen politischen Lockerungen und Öffnungen, auch bei den Rechten von Frauen im öffentlichen Leben.

Auch ein Blick in die Geschichte lohnt sich. In den ersten Jahrzehnten nach Erringung der Unabhängigkeit (bis in die 1970er Jahre) dominierte in vielen Ländern eine weltlich-sozialistisch orientierte Führungsschicht. Erst als diese Führungsschicht angesichts nicht haltbarer Versprechungen ermüdete und ihre Glaubwürdigkeit verlor, gewann ein politischer Islam an Einfluss. Die Führung verlagerte sich vielerorts auf religiöse Parteibildungen und Regierungen – die Übernahme des Sozial- und Bildungswesens sowie des Kultur- und Medienbereichs, spielte dabei eine wichtige Rolle. Doch nun gibt es auch bei dieser engen religiösen Führung schon seit einigen Jahren Verschleißerscheinungen – das zeigen die oben erwähnten Lockerungen und Öffnungen und macht diese bedeutungsvoll.

Es wäre aber ganz falsch, hier von einer neuen „Aufbruchstimmung“ zu sprechen, dazu sind die inneren Ressourcen der Länder zu knapp und der wirtschaftliche Druck von außen zu groß – zum Beispiel stehen die typischen Leichtindustrien des Mittelmeerraums unter dem ostasiatischen Konkurrenzdruck. Vor allem gibt es den immensen Druck durch das starke Bevölkerungswachstum. Vor dem harten Hintergrund dieser Knappheit bekommen kleine Fragmente von Arbeit und öffentlichem Leben – als kleine Freiheiten des Alltags – einen neuen Wert. Und gleichzeitig bleibt der Islam stark. Er wird als Unterpfand für die Eigenständigkeit der Länder und für die Würde ihrer Bürger verstanden. So sollte die Situation der Länder vorsichtig als Situation „zwischen Fortschritt und Krise“ beschrieben werden. Aber das ist eine Situation, in der die Menschen der arabisch-islamischen Welt jetzt durchaus etwas zu verlieren haben.

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Die Situation im Gazastreifen ist ein Sonderfall Über die Situation im Gazastreifen kann vieles gesagt werden. Sicher ist es richtig, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht mit der Hamas und auch nicht mit den lauten Demonstrationen auf der Straße gleichgesetzt werden darf. Aber die Situation in den Gebieten, die den arabischen Palästinensern zur Selbstregierung überlassen wurden, dürfen auch nicht mit der Situation der anderen arabischen Länder gleichgesetzt werden. Im Gazastreifen ist nicht einmal in Ansätzen ein Entwicklungsmodell erkennbar, das auf die eigenen Kräfte baut. Das Gebiet ist extrem von der Zufuhr von außen abhängig: von Geld, von Nahrungsmitteln, von Fahrzeugen und Maschinen, von Fachleuten. Das Gebiet wurde wie ein Lager regiert.

Hier entsteht tagtäglich der Eindruck, die arabischen Palästinenser hätten nichts zu verlieren, und das ist ein Nährboden für den Extremismus. Wie könnte Israel diesen Nährboden auflösen, ohne sich selbst abzuschaffen? Ist die so oft beschworene „Zwei-Staaten-Lösung“ wirklich tragfähig oder nur ein Formelkompromiss? Redlicherweise muss zugegeben werden, dass eine definitive Lösung des Palästina-Problems nicht in Sicht ist. Deshalb wäre es ganz falsch, jetzt alles auf eine solche Lösung zu setzen. Auch die arabisch-islamischen Länder können ihre eigene Entwicklung nicht an eine solche Lösung der Palästina-Frage binden.

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Wie die Massenmigration die Länder des Nahen Ostens gefährdet In der gegenwärtigen Krise fällt auf, wie restriktiv ein Land wie Ägypten mit der Ausreise von Bewohnern des Gazastreifens umgeht, und wie es mit aller Härte eine Massenimmigration auf ägyptisches Territorium verhindert. Ägypten weiß um die destabilisierende Wirkung, die eine solche Fluchtbevölkerung auf seine innere Lage ausüben kann. In Syrien und dem Libanon kann man sehen, wie sich eine solche Bevölkerung als politische und militärische Macht im Lande konstituiert und zum Instrument fremder Mächte (wie dem Iran) werden. Und noch etwas ist wichtig an der Haltung Ägyptens: Bei aller Härte hütet sich Ägypten davor, gegen die Migranten vordergründig zu polemisieren und sie moralisch zu verdammen.

Das geschieht nicht aus Angst vor Eskalation, sondern aus Einsicht in die schwierigen Bedingungen, unter denen die Menschen im Gazastreifen leben müssen. Ägypten erkennt diesen Ernst der Lage an und fühlt diesen Ernst mit, aber es sagt trotzdem „Nein“. Dieses „Nein“ ist nicht willkürlich und „autoritär“, sondern reflektiert reale Gefahren. Das hat allgemeinere Gründe, die für den gesamten Nahen Osten und die Südanrainer des Mittelmeeres gelten. Dort sieht man sich einer jungen Überbevölkerung gegenüber, die sich sehr leicht in eine entwurzelte, nomadisierende, bindungslose, gewaltbereite Überbevölkerung verwandeln kann.

Der Autor dieser Zeilen erinnert sich an eine Marokko-Reise im Herbst 2013, bei der unser Reiseführer, der aus einem Provinzort im Süden des Landes stammte, die großen Bemühungen der Regierung schilderte, die junge Bevölkerung in den kleinen und mittleren Provinzstädten zu halten. Es geht also nicht nur um eine Massenimmigration von Fremden, sondern um eine Binnenmigration – eine Landflucht in die Städte, die die Städte in wahre Heerlager einer demographischen Reservearmee verwandeln. Und diese junge Überbevölkerung ist dann für alle möglichen Ideologien empfänglich, die sie als Opfer der Weltgeschichte darstellen und ihnen ein Recht auf Rache zusprechen. Die Länder des Nahen Osten müssen also aus eigener Erfahrung und aus eigener Selbsterhaltung zum Palästina-Extremismus auf Distanz gehen. Denn ein ähnlich-bindungsloser Extremismus wächst, in der ein oder anderen Form, auch in diesen Ländern und bedroht ihre wirtschaftlichen, rechtlichen und kulturellen Errungenschaften.

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Bloß kein „Kulturkampf“ gegen die arabisch-islamische Welt Aber wer in der westlichen Politik und Öffentlichkeit spricht jetzt von den Errungenschaften und Fähigkeiten der arabisch-islamischen Welt? Dazu müsste man ja anerkennen, dass es diese Errungenschaften und Fähigkeiten überhaupt gibt. Man müsste sie auch in den Punkten anerkennen, wo sie nicht dem westlichen Weg in die Moderne entsprechen oder dem Westen irgendwie „näherkommen“. Die Anerkennung muss also auch die Entwicklungspfade anerkennen, die aus den eigenen Traditionen der verschiedenen Länder hervorgehen. Eine Außenpolitik, die sich wirklich von einer „Weltinnenpolitik“ unterscheidet, darf sich nicht bloß irgendwelche Rosinen westlicher Werte aus der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Gesamtheit eines arabisch-islamischen Landes herauspicken, sondern muss die Souveränität dieser Gesamtheit anerkennen. Die sogenannte „wertegeleitete“ Außenpolitik neigt aber immer dazu, in andere Länder hineinzuregieren. Die jetzige Krise ist der Moment, wo dieses Bewerten und Hineinregieren gegenüber der arabisch-islamischen Welt ausdrücklich zurückgenommen werden sollte. Gerade jetzt käme es darauf an, die Länder der Region mit ihren spezifischen Bedingungen zu betrachten und zu verstehen.

Angesichts des Vernichtungs-Terrors gegen Israel mag mancher dazu neigen, die Auseinandersetzung zu „vertiefen“, indem man den Terror und den anschließenden Jubel darüber auf generelle „Ursachen“ zurückführt – auf eine ethnische Ursache („die Araber“) oder auf eine religiöse Ursache („der Islam“). Aber das schwächt den Kampf gegen den Terror, weil man ihn zu einem globalen Kulturkampf ausweitet. So werden alle Staaten und Gesellschaften der Region aufgrund einer ethnischen, religiösen, kulturellen „Identität“ als Feind markiert. Ein angeblich in sich ewig gleicher „arabisch-islamischer Kulturkreis“ wird zum Erbfeind des Westens erklärt, und wir stecken fest in einer weltweiten Konfrontation der Kulturkreise im Sinne von Huntingtons „Clash of Civilizations“.

Diese Steigerung ist gefährlich, und sie ist auch unnötig. Sie zerstört die bestehenden positiven Anknüpfungspunkte für eine friedliche Koexistenz in einer pluralistischen Staatenwelt. Sie will von den Realitäten im Nahen Osten nichts wissen. Man erinnert sich noch an den schändlichen Auftritt des deutschen Fußballs bei der WM in Katar, wo man das Land wegen Ausbeutung und sexueller Unfreiheit an den Pranger stellen wollte. Funktionäre, Journalisten und Spieler verletzten grob das Gastrecht und den Sportsgeist der ersten Fußball-Weltmeisterschaft in dieser Region. Die zuständige deutsche Ministerin fläzte sich demonstrativ-desinteressiert auf der Tribüne – was für ein peinliches Beispiel westlich-postmoderner Selbstbezogenheit.

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Nicht eine, sondern zwei Aufgaben Die deutsche Außenpolitik muss in der gegenwärtigen Krise zwei Aufgaben im Blick haben. Es ist unbedingt wichtig, Israel in seinem Vorgehen gegen den Terror nachhaltig zu unterstützen. Hier darf es keine faulen Kompromisse geben, wie es die deutsche Stimmenthaltung angesichts einer UN-Resolution, die den Vernichtungsangriff der Hamas völlig verschwieg, war. Innenpolitisch muss der Schutz jüdischer Einrichtungen und Mitbürger wirklich durchgesetzt werden. Der Schutz darf nicht durch eine „neutrale“ Haltung der Behörden verwässert werden. Die deutsche Politik wird nicht daran gemessen werden, welche Lehren aus der Vergangenheit sie verkündet, sondern daran, was sie hier und jetzt durchsetzt. Das ist sie nicht gewohnt.

Aber es gibt eine zweite Aufgabe. Die deutsche Politik muss dazu beitragen, dass die gegenwärtige Verengung auf die Palästina-Frage aufgebrochen wird. Es geht um die Einsicht, dass es im Nahen Osten Errungenschaften und Interessen gibt, die weiter führen als der Palästina-Konflikt. Dazu braucht Deutschland ein positives, konstruktives Verhältnis zu den Ländern der arabisch-islamischen Welt. Es muss der Verführung zu einem Kulturkampf widerstehen. Gegen die Massenimmigration aus dem Süden müssen endlich harte Grenzen gezogen werden, aber das darf nicht mit einer wertenden Einmischung in die inneren Verhältnisse der Staaten der Region verbunden werden.

Wird die jetzige Politik des erhobenen moralischen Zeigefingers von Seiten der Regierung (und vieler Medien) weiterverfolgt, wird auch die Erfüllung der ersten Aufgabe scheitern. Denn dann wird der Kampf gegen den Terror als Hegemonialkrieg des Westens gegen die arabisch-islamische Welt erscheinen. Das wäre verheerend. Um dem zu entgehen, hilft nur eine positive Grundeinstellung zu dieser Welt. Sie muss aus innerer Überzeugung kommen.

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