Tichys Einblick
Rücktritt Nehammer

Österreich: Koalitions-Chaos wird zur Republik-Krise

Nach Nehammers Rücktritt wird auf Social-Media-Kanälen bereits emotional über die Nachfolge an der Spitze der ÖVP diskutiert. Nehammers Kampf, die FPÖ in der Regierung zu verhindern, scheint nun mit maximaler Dramatik verloren zu sein. Von Richard Schmitt

ÖVP-Chef Karl Nehammer und SPÖ-Chef Andreas Babler

IMAGO / Andreas Stroh

Das war’s in Österreich: Die Errichtung einer „Brandmauer“ gegen Rechts, also gegen die FPÖ von Herbert Kickl, führt in eine dramatische Regierungskrise in Wien – Kanzler Karl Nehammer wirft hin, weil die Konservativen mit den Sozialdemokraten keine Koalition schaffen. Der ÖVP-Chef wurde bereits seit den Wahlen am 29. September kritisiert, weil er eine Regierungsbildung mit dem Wahlgewinner FPÖ stets abgelehnt hat.

„Mein Vater hat immer gesagt, ich soll mich nicht so wichtig nehmen“, sagt ein gefasster Noch-ÖVP-Chef bei seiner Rücktrittserklärung in Wien. Er will, ja er kann nicht mehr: Karl Nehammer hat 100 Tage mit gewaltiger Kraftanstrengung versucht, die von ihm schon im Vorwahlkampf aufgezogene „Brandmauer“ gegen die rechte FPÖ zu verteidigen – er hat dann im Wahlkampf Herbert Kickl, den Ex-Innenminister in der ÖVP-FPÖ-Koalition, sogar zu einem „Sicherheitsrisiko“ erklärt und die ÖVP weit links als möglichen Partner einer jetzt marxistisch angehauchten österreichischen Sozialdemokratie positioniert.

Nehammers Kampf, die FPÖ in der Regierung zu verhindern, scheint nun mit maximaler Dramatik verloren zu sein: Entweder, es kommt nun in Österreich zu Neuwahlen (was bei den Millionenschulden und Erfolgsaussichten der ÖVP und der SPÖ nicht wirklich wahrscheinlich ist), oder Nehammers Nachfolger gibt unter Herbert Kickl den Vizekanzler, um doch noch die ÖVP in der Regierung zu halten, also weiterhin an der Macht und beim Steuergeld.

Nach Nehammers Rücktritt wird auf Social-Media-Kanälen bereits emotional über die Nachfolge an der Spitze der ÖVP diskutiert: Auch wenn die finanzstarken Unterstützer von Ex-Kanzler Sebastian Kurz wenig unverhohlen den nunmehrigen millionenschweren Cyber-Security-Unternehmer sogar mit Storys in der Bild-Zeitung pushen wollen, vermuten Politik-Experten in Wien eine Zwischenlösung. Weil sich Kurz die Aufräumarbeiten nach dem Budget-Desaster der Koalition der ÖVP mit den Grünen sicher nicht antun will, könnte ein ÖVP-Funktionär aus der zweiten Reihe zum Zug kommen: Immer wieder wird der Name von Wolfgang Hattmannsdorfer genannt, der bereits als Landesrat in Oberösterreich mit den FPÖ-Spitzen zusammengearbeitet hat und nun kürzlich zum Generalsekretär der Österreichischen Wirtschaftskammer aufgestiegen ist.

Das nun wahrscheinlichste Szenario in Wien: Die ÖVP stellt mit Hattmannsdorfer den Vizekanzler, Herbert Kickl zieht ins Kanzleramt ein – und Sebastian Kurz bleibt in Lauerstellung der erfolgreiche Unternehmer und Talkshow-Gast. Bis dann eben auch diese ÖVP-FPÖ-Koalition gesprengt wird – bekanntlich reichten 2019 wenige Video-Schnispel aus Ibiza und eine professionell inszenierte Medien-Hysterie bereits aus, um die damalige Mitte-Rechts-Regierung zu vernichten.

Bei Neuwahlen könnte dann Sebastian Kurz sein großes Comeback wagen, die ÖVP wird dann vermutlich auch wieder ihre Kriegskasse gefüllt haben. Einzige Voraussetzung für diesen Rückkehr-Plan von Kurz: Er darf nicht in wenigen Monaten aufgrund des laufenden Ermittllungsverfahrens in einem heiklen Korruptions-Krimi angeklagt werden, immerhin droht ihm da bei einer Verurteilung eine jahrelange Haftstrafe. Aber vielleicht stellt die ÖVP ohnehin schon in 14 Tagen den Justizminister.


Richard Schmitt, Journalist, Wien


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