Derzeit sind im Osten und Südosten Europas Landkarten wieder sehr gefragt. Sie zeigen nicht, wo wessen Landes Grenze liegt, sondern vielmehr, wo manche gerne neue Grenzen ziehen würden. Das treibt derzeit besonders viele Rumänen um. Ein Grund für den Aufstieg neuer rechter Parteien dort, allen voran die „Allianz für die Einheit Rumäniens“ (AUR) sind deren Parolen von einem „Großrumänien“.
Dazu gehört, Parteichef George Simion zufolge, vor allem Moldau. Das Land war einst Teil Rumäniens und ist mehr als zur Hälfte von Rumänen bevölkert. Aber auch Teile der Ukraine und sogar Ungarns gehören dazu. Schon 2019 zeigte Simion eine Landkarte von „Großrumänien” in den Grenzen von 1937 und erklärte, diese Grenzen wieder herstellen zu wollen. Dafür müsste allerdings Moldau sowie Teile der Ukraine, Bulgariens und Ungarns an Rumänien angeschlossen werden, was diese Länder nicht erfreut.
In Bosnien ist es Serben-Präsident Milorad Dodik, der gern von einer Abspaltung seiner Teilrepublik vom Rest Bosniens spricht. Auch er präsentierte, beziehungsweise kritzelte in einem Interview 2018 neue Landesgrenzen, wie er sie gerne hätte: Serbengebiete abspalten, Kroatisch bevölkerte Gebiete an Kroatien, und eingezwängt dazwischen ein minimaler Rest für Bosniens Muslime.
Dodik sieht das als einen Schritt zu einem Groß-Serbien, wie es einst Slobodan Milošević vorschwebte, der deswegen den Jugoslawienkrieg auslöste. Auch dazu gibt es Landkarten, auf denen neben großen Teilen Bosniens auch Kosovo und Montenegro zu Serbien gehören.
Es gibt Albaner, die ein Großalbanien wünschen und manche Bulgaren, die sich nach einem Großbulgarien sehnen. Manche Ungarn träumen vom vergangenen Großungarn, und manche Kroaten von einem Großkroatien. Es gibt Polen, die mit Wehmut daran denken, dass die westliche Ukraine noch 1939 zu Polen gehörte. Manche Türken träumen von „Büyük Türkiye“, einer Großen Türkei. Und es gibt einige Deutsche, die… aber lassen wir das.
Meistens geht es da um winizige Minderheiten, die so denken – außer in Bosnien und Rumänien, und wohl auch in der Türkei. Aber die kollektive Erinnerung an vergangene Größe kann bei vielen Menschen zu instinktiven Reflexe führen, die von manipulativen Politikern zum eigenen Vorteil ausgenutzt werden können – darauf beruhte der Erfolg von Slobodan Milošević. Vamik Volkan hat diesen Mechanismus in seinem Buch „Blutsgrenzen“ (1999) sehr gut beschrieben.
Die Geschichte des früheren Ostblocks nach der Wende ist nicht zuletzt eine Geschichte solcher Träume früherer Macht und Pracht. Diese Träume wurden Politik und führten zun einer Reihe von Kriegen im früheren Jugoslawien, die weit mehr als 100.000 Todesopfer forderten. Der Ukraine-Krieg kann wohl am besten als Teil dieser territorialen Konflikte nach dem Ende des Ostblocks verstanden werden, wie auch der Transnistrien-Krieg 1991-92, der Krieg in Georgien 2008 und die Kriege um Berg-Karabach (1991-91, 2020, 2023).
Weil die Welt – und besonders Europa – in solchen Kriegen so viel gelitten hat, kam man nach dem Zweiten Weltkrieg überein, künftig nicht mehr zuzulassen, dass Grenzen durch Gewalt geändert werden. Das besagt die Charta der Vereinten Nationen in Artikel 2, Absatz 4.
Trotz aller vorhin aufgezählten Konflikte nach dem Zusammenbruch des Kommunismus hat man sich bislang daran, oder zumindest an eine kreative Interpretation dieses Grundsatzes, gehalten. Die Sowjetunion zerfiel (relativ) friedlich entlang ihrer internen Verwaltungsgrenzen. Kosovo war ebenfalls in seinen heutigen Grenzen eine autonome Region in Serbien. Bosnien wurde aufgeteilt, blieb aber als jugoslawischer Nachfolgestaat mit seinen Außengrenzen erhalten. Freilich funktioniert das nur, solange das dysfunktionale „Land“ von der „Staatengemeinschaft“ zwangsverwaltet wird.
Gewiss ist es auch das Ziel Russlands im Ukraine-Krieg, völkerrechtlich etwas Vergleichbares zu erreichen: die Annektierung der vier von Moskau beanspruchten Regionen in ihren offiziellen Verwaltungsgrenzen (also mehr als die gegenwärtig von Russland besetzten Gebiete). Da wird Moskau dann sicher hoffen, dass dies zumindest von manchen Ländern international anerkannt wird.
Der Grundsatz, „keine Grenzänderung durch Gewalt“ hat also zwar nicht zu einem Ende aller Kriege geführt, aber doch zu einer kreativen Definition von „Grenze“. Da die postkommunistische Weltordnung Russlands Macht und Einfluss in Europa stark reduzierte, ist es derzeit Russland, das versucht, diese Ordnung zu demontieren, und einiges von seinem früheren Gewicht in der Region zurückzugewinnen. Das geht nur über Gewalt und Konflikt.
Für diese Rückkehr der Machtpolitik gibt Moskau übrigens dem Westen die Schuld. Der Kosovo-Krieg und Kosovos Abspaltung von Serbien, unter dem militärischen Schutz der USA und Europas, habe mit dem völkerrechtlichen Grundsatz „keine Grenzänderung durch Gewalt“ gebrochen, so die russische Sichtweise.
Russland versucht also, im Osten Europas mit Appellen an nationale Instinkte die westliche, „globalistische“ Ordnung ins Wanken zu bringen. Russland unterstützt Dodiks Bemühungen in Bosnien, das Land zu spalten. In Rumänien kann man einen konkreten Einfluss Russlands zugunsten der Nationalisten um Simion und seinem Verbündeten Georgescu zwar nicht nachweisen, dass aber ihre Ansichten in Moskau zu gefallen vermögen, ist klar genug.
Für die EU und die USA geht es um sehr viel – letztlich um ihren Einfluss in der Region. So verwundert es nicht, dass die vom Westen unterstützte Staatsmacht in Bosnien und Rumänien als letztes Mittel die Justiz als Waffe benutzt, um die Nationalisten zu stoppen.
In Rumänien wurde Geaorgescu von der Wahl ausgeschlossen, obwohl er in den Umfragen bei 40 Prozent der Wählersympathien lag. In Bosnien genießt Dodik den Rückhalt der Serben – er wurde aber zu einer Haftstrafe verurteilt, weil er die Entscheidungen des deutschen „Hohen Repräsentanten“ der Staatengemeinschaft, Christian Schmidt, nicht implementiert. Es scheint klar, dass hier ausländischer Einfluss und eine politisierte Justiz eingesetzt werden, um die Region geopolitisch bei der Stange zu halten.
Am Mittwoch ordnete die bosnische Staatsanwaltschaft die Festnahme Dodiks an – die Frage ist, wie und von wem er verhaftet werden kann, wenn seine Sicherheitskräfte das verhindern wollen. In Rumänien wurde zwar Georgescu von der Wahl ausgeschlossen, aber AUR-Chef Simion reichte umgehend am Mittwoch seine eigene Kandidatur ein.
Hier geht es nicht um Persönlichkeiten, um einzelne Akteure: In den Gesellschaften selbst ist vieles in Bewegung, entsteht soziale Sprengkraft. Seit der Covid-Krise, und dann durch Ukraine-Krieg und Inflation, sind breite Schichten der Gesellschaft verarmt. Besonders sie kann man mit Apellen an den nationalen Stolz mobilisieren.
Das Problem ist also größer als viele glauben. Man kann sie nicht per Gerichtsurteil lösen.