David Dietz war Geschäftsführer der Lebenshilfe Mainz-Bingen, Mitarbeiter im rheinland-pfälzischen Gesundheitsministerium und arbeitet nun als Geschäftsführer der Pflegekammer Rheinland-Pfalz. Er kennt das System der Sozialversicherungen also aus allen praktischen Bereichen. Nun kandidiert er auf einem aussichtsreichen Listenplatz für die FDP zur Bundestagswahl. Die Ampel habe zu wenig getan, um die Kostenexplosion in der Sozialversicherung zu verhindern, räumt er im Interview mit TE ein. Wenn die nächste Bundesregierung an das Thema nicht rangehe, drohe eine gefährliche Situation im Umgang mit den Bürgern.
Tichys Einblick: Zwischen 2015 und 2023 sind die Kosten der Krankenkassen von knapp über 200 Milliarden auf knapp unter 300 Milliarden Euro gestiegen. Woher kommt diese Explosion, Herr Dietz?
David Dietz: In diesen Jahren ist die Leistungsausweitung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) massiv angestiegen. Das passierte unter Jens Spahn als Gesundheitsminister noch massiver als unter Karl Lauterbach.
Was war deren Motivation?
Da sind einfach Geschenke an eine bestimmte Klientel verteilt worden. Bezahlen hat das die Solidargemeinschaft der Versicherten müssen. Wenn man dann sieht, dass trotz immer höherer Einnahmen das Defizit der GKV im vergangenen Jahr bei 3,7 Milliarden Euro gelegen hat, dann muss man sagen: Das ist aus dem Ruder gelaufen.
Können Sie Beispiele für diese Ausweitung der Leistungen der Krankenkassen nennen und Beispiele für Leistungen, die Ihrer Meinung nach gestrichen werden sollten?
In großem Ausmaß wurden Leistungen für die ältere Generation erweitert. Es ist jetzt schwierig zu sagen, das oder jenes streichen wir. Denn einzeln ist alles für sich vielleicht sinnvoll und schön zu haben. Doch so leid mir das auch tut: Das ist nicht mehr bezahlbar.
Welche Rolle spielen die Verwaltungsausgaben in den Gesamtkosten der Krankenkassen?
Auch Sozialverwaltungen sind am Ende des Tages Behörden. Und Behörden sind grundsätzlich immer darauf bedacht, sich selbst am Leben zu halten. Beim Bürgergeld machen zum Beispiel die Verwaltungskosten ein Drittel der gesamten Kosten aus. Wenn du dann in die Diskussion gehst, dass Leistungen gestrichen werden müssen, erlebst du schnell den Widerstand derer, die diese Leistungen verwalten – schließlich ist das ihre Existenzgrundlage.
Der Frage, welche Leistungen konkret gestrichen werden müssen, sind Sie ausgewichen. Liegt aber nicht darin genau das Problem der Krankenkasse und der Sozialversicherungen überhaupt? Immer Neues kommt dazu. Aber keiner traut sich an den Bestand, weil er dann zu viel Gegenwind bekommt. Gerade im Wahlkampf. Also bleibt alles, wie es ist und die Kosten laufen davon.
Absolut. Diese Diskussionen sind unbeliebt und sie können einen Politiker ruinieren. Ich erinnere nur an Philipp Mißfelder. Eigentlich müssten wir jetzt, vor der Wahl, die Diskussion führen, welche Leistungen wir uns in der Krankenkasse und in der Sozialversicherung insgesamt noch leisten können und wollen. Aber Gesundheitspolitik spielt in den großen Debatten überhaupt keine Rolle. Um es an konkreten Themen festzumachen: Doppeluntersuchungen, unnötige Wiederholungstermine und Röntgenaufnahmen, die an anderer Stelle bereits vorliegen – die Liste unnötiger Dinge ist so lang wie abschaffbar.
Woran liegt das?
Die Sozialversicherungen und die damit finanzierte gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung stellt eben auch den Kitt der Gesellschaft dar – zumindest einen Teil davon. Den will niemand riskieren. Aber durch Unterlassung riskieren wir ihn auch. Es ist ja nur das eine Problem des Gesundheitswesens, dass es immer teurer wird. Gleichzeitig funktioniert es ja auch immer weniger.
Inwiefern?
Es wird zum Beispiel für viele immer schwieriger, einen Arzttermin zu bekommen. In Mainz habe ich selbst das Beispiel erlebt, dass eine Ärztin ihre Patienten informiert hat, dass sie aufgrund der mangelhaften Finanzierung keine gesetzlich Versicherten mehr annehmen kann. Und Mainz ist noch eine Insel der Glückseligen. In ländlichen Regionen wie der Westpfalz ist die Lage noch viel schlimmer. Das ist eine gefährliche Situation.
Worin sehen Sie die Gefahr?
Wenn sie immer mehr bezahlen müssen. Wenn mittlerweile allein die Krankenversicherung über 17 Prozent des Lohns frisst. Gleichzeitig aber die Versorgungslage schlechter wird. Dann drehen die Leute durch. Und sie drehen zu Recht durch. Die Einschläge sind zu spüren. Sie kommen immer näher. Selbst auf einer Insel der Glückseligen wie Mainz. Zeitnah nach der Wahl muss die Politik an das Thema Sozialversicherungen ran. Gerade in dem Bereich ist unter der Ampel zu wenig passiert.
Wie müssen die Reformen aussehen? Kommt ein Kahlschlag?
Wir müssen stärker strukturieren. Am Vorschlag von Robert Habeck, auf Ersparnisse für das Alter Beiträge für die Krankenkassen zu erheben, sieht man doch, wie weit fortgeschritten die Lage ist. So untauglich Habecks Vorschlag auch ist. Die Einsicht in die Finanznot der Kassen, die dahinter steckt, ist doch richtig angesichts eines Defizits von 3,7 Milliarden Euro.
Warum ist Habecks Vorschlag untauglich?
Sie haben selber die Erhöhung der Ausgaben erwähnt. Im gleichen Maß sind auch die Einnahmen gestiegen. Noch vor zehn Jahren haben die Kassen 200 Milliarden Euro von den Versicherten genommen, nun 300 Milliarden Euro, bald sind es 400 Milliarden Euro. Und wir nehmen es hin, dass die Kassen damit nicht auskommen und sagen: Dann überlegen wir einfach, wie wir noch systemfremdes Geld – etwa über Ertragssteuern – in das System pumpen können. Da musst du dir doch irgendwann die Frage stellen: Funktioniert das noch oder müssen wir besser umstrukturieren?
Aber wird denn das nach der Wahl passieren? Jens Spahn war als Gesundheitsminister so schlecht, dass er auf das Thema heute ausdrücklich nicht mehr angesprochen werden will. Trotzdem ist er als Minister in einem Kabinett Merz die allererste Wahl. Von den potenziellen Koalitionspartnern SPD oder Grünen gar nicht erst zu sprechen. Das sieht doch eher nach Stillstand als nach echten Reformen aus.
Ich mache mir wirklich Sorgen. Zwar muss man in der Tat noch abwarten, in welcher Konstellation nach der Wahl in Berlin regiert wird. Doch so richtig Lust darauf, an die Sozialversicherungen ranzugehen, hat keiner. In den letzten Jahren ist nichts passiert. Im Gegenteil. Die Situation hat sich verschlimmert. Passiert nichts, explodieren die Kosten aber weiter, bei schwieriger werdender Versorgungslage.
Was bedeutet das in letzter Konsequenz? Müssen Arbeitnehmer immer mehr bezahlen oder werden die gesetzlichen Krankenkassen irgendwann zusammenbrechen?
In der Tat gibt es diese zwei möglichen Folgen. Zum einen die Abgabenlast. Die Politik hatte vor noch gar nicht so langer Zeit versprochen, die Sozialausgaben würden auf keinen Fall über 40 Prozent steigen. Wir sind weit davon entfernt, dieses Versprechen einzuhalten. Die Debatten gehen eher zu der Frage, ab wann 50 Prozent des Bruttoeinkommens für Sozialausgaben verausgabt werden sollen. Es ist komplett gaga, wenn von jedem verdienten Euro mehr als die Hälfte für Sozialabgaben abgeht. Gerade wenn dann das System gleichzeitig immer schlechter wird. Das werden die Leute auf Dauer nicht mitmachen.
Sind dann Insolvenzen von Krankenkassen möglich?
Die Insolvenzen werden eher innerhalb des Gesundheitssystems passieren. Im Bereich der Krankenhäuser erleben wir das ja zum Beispiel. 30 Insolvenzen innerhalb eines Jahres. Davon übrigens sechs allein in Rheinland-Pfalz. Ich erinnere auch an mein Mainzer Beispiel der Ärztin, die gesetzlich Versicherte wegen der unzureichenden Vergütung nicht mehr behandelt. Das System gerät zunehmend unter Druck.
Krankenhäuser sind ein gutes Beispiel. Da hat Karl Lauterbach ja eine Reform durchgebracht, die er selber als „Revolution“ gefeiert hat. Hilft diese Reform denn?
Die Reform ist ein richtiger Schritt. Bisher gibt es an vielen Standorten Krankenhäuser, die alle Leistungen anbieten, viele davon aber nicht so richtig beherrschen. So werden Kosten verursacht, die nicht mehr tragbar sind. Da setzt die Reform an. Durch Zentralisierung sollen weniger, aber dafür leistungsfähigere Kliniken entstehen. Insbesondere auch durch Spezialisierung von Häusern. Das System soll leistungsfähiger werden, ohne dass gleichzeitig die Kosten weiter durch die Decke gehen. Doch die Reform greift zu langsam. In der Zwischenzeit gehen viele Kliniken in die Insolvenz. Dies aber ohne durchdachte Planung.
Ziel der Reform war es, in der Tat, günstiger zu werden. Jetzt hat Karl Lauterbach es aber geschafft, dass den Kassen – und damit den Versicherten – jährlich weitere 2,5 Milliarden Euro an Kosten entstehen. Wie ist das möglich? Eine Reduktion des Angebots, die zu höheren Kosten führt?
Die Finanznot der Kliniken speist sich aus zwei Quellen. Die Vergütungen der Krankenkassen wurden nicht ausreichend an die allgemeinen Preissteigerungen angepasst. Und die Länder haben ihren Anteil an den Investitionskosten nicht ausreichend geliefert. Eigentlich stünden die Länder also in der Pflicht, mehr zu tun. Aber wenn der Bund eine Reform will, muss er die Länder mitnehmen, da diese über den Bundesrat ein Mitspracherecht haben. Auch muss der Minister die Verwaltung mitnehmen. Also gibt es hier ein Zuckerchen für die Länder, dort ein Zuckerchen für die Verwaltung und schon sind 2,5 Milliarden Euro zusätzliche Kosten entstanden – statt das System günstiger zu machen. Und diese 2,5 Milliarden Euro zahlen wir dann als Versicherte ebenfalls. Nur, um das klar zu machen.