Tichys Einblick
Krieg ohne Plan und Perspektive

Patient EU, Diagnose Größenwahn

Die EU und Deutschland haben sich im Ukraine-Krieg klar positioniert, ihre Haltung ist jedoch Ausdruck von Größenwahn: Es fehlen nicht nur die Mittel, sondern bereits realistische Perspektiven und Ziele. Zudem wird der Wille der eigenen Bevölkerung ignoriert. Von Friedrich Pürner

picture alliance / SIPA | Arnaud Cesar Vilette/OLAN

Seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine im Februar 2022 drängte sich die Europäische Union – angeführt von Deutschland – in eine Rolle, die an Größenwahn grenzt. Die beharrliche Bereitschaft, den Konflikt mit finanziellen Mitteln in Milliardenhöhe, Waffenlieferungen und provokanter politischer Rhetorik zu unterstützen, wirft Fragen auf: Ist diese Politik noch rational oder hat sie sich in eine ideologische Fixierung verwandelt, die die Realität des Krieges und die Interessen der eigenen Bevölkerung ignoriert? Welche besondere Dynamik steckt hinter der Haltung der EU und Deutschlands? Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Politik und der zunehmenden Diskrepanz zwischen den Eliten und den Bürgern?

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Die EU verfolgte von Anfang an nur eine Richtung: Die Ukraine müsse unterstützt werden, um die russische Aggression einzudämmen und die „europäischen Werte“ zu verteidigen. Deutschland als wirtschaftliches und politisches Schwergewicht der EU hat sich dabei besonders hervorgetan. Von den anfänglich zögerlichen Lieferungen von Helmen, Schutzausrüstung und ausrangierten Panzern hin zu modernen Waffensystemen wie dem „Leopard 2“-Kampfpanzer zeigte sich eine Eskalation, die kaum jemand vor drei Jahren für möglich gehalten hätte. Die Bundesregierung unter Kanzler Olaf Scholz pumpte Milliarden Euro an Militärhilfen in die Ukraine, während die EU insgesamt über 100 Milliarden Euro an Hilfen bereitstellte – sei es in Form von direkter Finanzhilfe, militärischer Unterstützung oder humanitären Programmen. Diese Zahlen sind beeindruckend. Sie werfen jedoch die Frage auf, ob die EU und Deutschland sich in dieser Mission, die weder realistische Ziele noch einen klaren Ausweg bietet, verrannt haben.
Naives Denken der Sofa-Krieger

Der Krieg in der Ukraine ist ein komplexes geopolitisches Geflecht, das tief in die Geschichte Osteuropas und die Spannungen zwischen Russland und dem Westen verwoben ist. Die EU hat sich jedoch entschieden, nicht den Weg der Diplomatie einzuschlagen, sondern den Konflikt als eine Art moralisches Schauspiel zu inszenieren: Auf der einen Seite die „gute“ Ukraine, die für Freiheit und Demokratie kämpft, auf der anderen Seite Russland als Inbegriff autoritärer Aggression. Diese Narrative vereinfachen die Realität erheblich und ignorieren die internen Probleme der Ukraine – von Korruption bis hin zu politischer Instabilität – die hinlänglich bekannt sind. Deutschland, das sich gerne als Hüter europäischer Werte sieht, scheint hierbei eine besondere Rolle einzunehmen. Die deutsche Politik agiert, als könne sie durch ihre Unterstützung nicht nur die Ukraine retten, sondern auch die eigene historische Schuld tilgen und sich als moralische Großmacht etablieren. Dieser Ansatz ist naiv und gefährlich.

Die finanzielle und militärische Unterstützung hat massive Konsequenzen für die Ukraine und auch für die Mitgliedsstaaten der EU. In Deutschland zeigen sich die Auswirkungen in einer angespannten Haushaltslage, steigenden Energiekosten und einer zunehmend unzufriedenen sowie verunsicherten Bevölkerung. Diese wird immer tiefer gespalten. Wer für Frieden eintritt, wird verbal angegriffen und in die rechte Ecke gestellt. Sofa-Krieger erobern im öffentlich-rechtlichen Rundfunk die Meinungsherrschaft und vereinnahmen die Deutungshoheit, obwohl die Mehrheit der Menschen in Deutschland für Frieden ist. Ein skurriles Phänomen!

Eskalation und Kriegsrausch

Die Energiekrise, die durch die Sanktionen gegen Russland und den Wegfall günstiger Gaslieferungen verschärft wurde, trieb die Lebenshaltungskosten in die Höhe. Viele Bürger fragen sich, warum ihre Regierung Milliarden in einen Krieg investiert, während Schulen marode sind, Renten nicht ausreichen und die Infrastruktur bröckelt. Die Antwort der Politik – dass dies ein Kampf für die Demokratie sei – klingt für viele wie Hohn, wenn sie selbst die wirtschaftlichen Folgen tragen müssen. Doch anstatt diese Sorgen ernst zu nehmen, schwingt sich die deutsche Regierung – und höchst wahrscheinlich auf die Nachfolgeregierung – weiter in die Rolle des europäischen Vorreiters auf, der keine Zweifel an der eigenen Mission duldet.

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Auch die Organe der EU scheinen in ihrem Streben nach Einheit und Stärke den Blick für die Realität verloren zu haben. Es ist eine fortlaufende Eskalation der Rhetorik – etwa durch Aufrufe zu noch härteren Sanktionen gegen den Aggressor oder der Lieferung von Langstreckenwaffen – zu beobachten. Dies zeigt, dass die Institutionen sich mehr um ihr Image als globale Macht sorgen als um die tatsächlichen Ergebnisse ihrer Politik. Das EU-Parlament scheint in einen Kriegsrausch verfallen zu sein. Anders sind die Reden und Abstimmungen vieler Abgeordneter und Fraktionen nicht mehr zu erklären.

Die Ukraine wird dabei zur Bühne eines geopolitischen Prestigekampfes, in dem es weniger um die Ukrainer als um die Demonstration westlicher Überlegenheit geht. Dass dieser Kurs die Spannungen gegenüber Russland weiter anheizt und ein Ende des Krieges in weite Ferne rückt, wird ignoriert. Stattdessen wird die ukrainische Führung unter Wolodymyr Selenskyj als unfehlbarer Held gefeiert, während kritische Stimmen innerhalb der EU, die auf Verhandlungen oder eine Deeskalation drängen, als naiv oder gar russlandfreundlich diffamiert werden.

Die Stimme des Volkes wird nicht gehört

Ein weiteres Problem ist die mangelnde demokratische Legitimation dieser Politik. In Deutschland zeigt sich ein wachsender Graben zwischen der Regierung und der Bevölkerung. Umfragen deuten darauf hin, dass viele Bürger Waffenlieferungen und die hartnäckige Unterstützung der Ukraine kritisch sehen. Sie wünschen sich eine Politik, die sich mehr um die inneren Probleme des Landes kümmert, statt in einem fernen Krieg eine Führungsrolle übernehmen zu wollen. Doch die Regierung scheint diese Stimmen kaum wahrzunehmen. Die Diskrepanz zwischen Bürgerwille und Regierungswille ist offenkundig. Statt die Bevölkerung ernst zu nehmen, wird jeder Widerspruch als mangelnde Solidarität oder gar als Unterstützung für Putin ausgelegt. Dieser autoritäre Reflex, Kritik zu unterdrücken, steht im Widerspruch zu den Werten, die sich EU und Deutschland auf die Fahne geschrieben haben und angeblich verteidigen wollen. Auch in Deutschland scheinen von den Politikern Kriegsgelüste auszugehen. Die Folgen werden nicht zu Ende gedacht, die Bürger nicht gefragt.

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Weiterhin wird die strategische Dimension des Konflikts kaum hinterfragt. Die EU und Deutschland setzen auf eine Schwächung Russlands, doch die Realität zeigt, dass dies gescheitert ist: Russland hat trotz Sanktionen seine Wirtschaft stabilisiert und neue Handelspartner gefunden, während die EU unter den Folgen leidet. Die Ukraine wiederum ist weit davon entfernt, den Krieg militärisch zu gewinnen – selbst mit westlicher Unterstützung. Die Frontlinien bewegen sich kaum, die Verluste sind immens und das Land driftet wirtschaftlich in die Abhängigkeit von seinen westlichen Geldgebern ab. Dennoch hält die EU an der Illusion fest, dass mehr Waffen und mehr Geld den Sieg bringen können. Diese Strategie gleicht einem Glücksspiel, bei dem der Einsatz immer höher wird, ohne dass ein Gewinn in Sicht ist, und der Spieler mit höheren Einsätzen versucht, die Verluste zu amortisieren.
Was ist das Ziel?

Die Rolle Deutschlands ist in diesem Szenario besonders ambivalent. Einerseits möchte das Land seine historische Verantwortung als Pazifist hinter sich lassen und sich als militärisch relevante Macht zeigen. Andererseits fehlt es an einer klaren Vision, wie dieser Krieg enden soll. Die Bundesregierung spricht von einem „Sieg“ der Ukraine, doch was das konkret bedeutet (die Rückeroberung aller Gebiete einschließlich der Krim? Eine Schwächung Russlands bis zum Regimewechsel?) bleibt unklar. Diese Ziellosigkeit bei gleichzeitigem engstirnigen Agieren ist ein Zeichen für den Größenwahn, der die Politik durchdrungen hat: Man glaubt, die Geschichte kontrollieren zu können, ohne die Mittel oder Konsequenzen wirklich zu durchdenken. Man glaubt, die Gegenwart militärisch kontrollieren zu können, ohne die Mittel und Ressourcen dafür aufzuweisen.

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Am Ende steht die Frage, ob die EU und Deutschland nicht Gefahr laufen, sich selbst zu überfordern. Der Krieg in der Ukraine zeigt die Grenzen europäischer Macht auf, sowohl wirtschaftlich als auch politisch. Statt die eigenen Grenzen anzuerkennen und eine pragmatische und friedliche Lösung anzustreben, setzen die Eliten auf eine Politik des Durchhaltens. Diese ist weder realistisch noch dient sie den Interessen der eigenen Bevölkerung. Der Größenwahn liegt darin, zu glauben, dass Europa diesen Konflikt allein durch Willenskraft und Geld entscheiden könne. Doch die Realität ist ernüchternd: Der Krieg geht weiter, die Kosten steigen, und ein Ende ist nicht in Sicht. Es ist an der Zeit, die eigenen Ambitionen zu hinterfragen und das Ausmaß der Verluste nicht weiter ansteigen zu lassen. Eine weitere Eskalation bezahlen die Menschen in der Ukraine – nicht die politischen Entscheidungsträger – mit dem Leben.

Dr. med. Friedrich Pürner, MPH ist Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen, Epidemiologe und Mitglied des Europäischen Parlaments


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