Deutschland zur Zeit des Vormärz: Die Bevölkerung ächzt unter den Karlsbader Beschlüssen, mit deren Hilfe die im Deutschen Bund versammelten Fürsten die liberale Nationalbewegung zu bekämpfen trachten. Vor allem die strengen Zensurgesetze ersticken jede öffentliche Debatte und legen sich wie ein grauer Schleier über das Land. Besonders repressiv ist die Lage in Mainz, das nach Ende der napoleonischen Herrschaft zur preußisch-österreichischen Bundesfestung erklärt worden ist und als Sitz der „Zentralkommission zur Untersuchung hochverräterischer Umtriebe“ fungiert – eine Art Stasi des Ancien Régime. Sie war von Metternich damit beauftragt worden, die sogenannte Demagogenverfolgung ins Werk zu setzen.
Doch in Mainz gab es seit alters her auch eine schwer zu kontrollierende anarchische Tradition, die „Meenzer Fassenacht“, wurzelnd in den ausschweifenden Saturnalien der alten Römer. Die Mainzer hatten sich mit den Mitteln karnevalistischer Subversion schon gegen die napoleonische Besatzungsmacht aufgelehnt; jetzt löckten sie gegen den repressiven Metternich-Staat. Ihre Organe waren die viel gelesenen Mainzer Karnevalszeitschriften, allen voran die „Narrhalla“ unter der Ägide des mutigen Publizisten Ludwig Kalisch.
Eigentlich waren diese Publikationen nur Mitteilungsblätter für die Mitglieder der Karnevalsvereine, die über Vereinsinterna und Veranstaltungen während der Fastnachtssaison informieren sollten. Doch die „Narrhalla“ segelte von Anfang an hart am Wind der sich ankündigenden revolutionären Ereignisse und trotzte dem Obrigkeitsstaat hinter der Maske der Ironie ein gehöriges Maß an Pressefreiheit ab. Auch in den „Generalversammlungen“ des Mainzer Carnevalsvereins wurde ein offenes Wort gepflegt, gegen das die Zensoren nur schwer einschreiten konnten beziehungsweise wollten.
Kostprobe aus der in einer Ausgabe der „Narrhalla“ beschriebenen „Literatur Hölle“: „Censoren lagern mit dem Obertheile unter Buchdruckpressen und mußten, ihrer Engbrüstigkeit im Leben wegen, nun den fürchterlichen Preßzwang erdulden, während sie am Untertheile von rächenden Journalisten mit langen, spanischen Bleistiften gestrichen wurden.“
Narren litten unter Zensur
In einem fiktiven Brief des Freiherrn von Münchhausen an „meinen innigstgeliebten Narrenredakteur“ heißt es im Geiste Heinrich Heines: „Ich bin ein Deutscher und als ächter Deutscher lieb’ ich mein Vaterland erst recht innig, wenn ich weit von diesem entfernt bin.“ Das mag heute harmlos klingen, war es aber nicht, wie ein Erscheinungsverbot der „Narhalla“ im Februar 1844 zeigte. In einem Artikel hatte man die Lola-Montez-Affäre um Bayernkönig Ludwig I. aufgegriffen, woraufhin die bayerischen Behörden ein Verbot erwirkten.
Nach dem Scheitern der Paulskirchenrevolution wurden Männer wie Ludwig Kalisch oder Franz Zitz, Mainzer Carnevals-Vereins in den Jahren 1843 und 1844, in Abwesenheit zum Tode verurteilt und konnten nur in der Emigration überleben. Mainz war im Vormärz eine Keimzelle bürgerlich-demokratischen Widerstands gewesen. Kein Wunder, dass der Historiker Heinrich von Treitschke „Moguntiacum“ als die „radikalste deutsche Stadt“ zwischen 1830 und 1848 bezeichnete.
Eine gehörige Portion Zivilcourage bewies später auch der legendäre Mainzer Fastnachter Seppel Glückert mit seinen Spitzen gegen die braunen Machthaber. „Zu reden hier heut braucht man Mut / weil eh mer sich vergucke dut, / als Opfer seiner närrischen Kunst / kann einquartiert wer’n ganz umsunst“, reimte er 1933. Zweimal soll er in späteren Sitzungen sogar das KZ Dachau erwähnt haben. Vor der „Einquartierung“ daselbst schützte ihn wohl nur seine Popularität in der Mainzer Bevölkerung.
Heute ist nicht viel von diesem aufmüpfigen, manchmal gar todesmutigen Freiheitsgeist übrig geblieben. Im Gegenteil: Die Mainzer Karnevalisten gefallen sich unterdessen darin, all das brav nachzubeten, was der politische und mediale Mainstream vorgibt. Vor allem die alljährliche ZDF-Fernsehsitzung „Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht“ ist ein Musterbeispiel obrigkeitsstaatlicher Anbiederung im neobiedermeierlichen Deutschland unserer Tage.
„Kampf gegen rechts“ als Programm
Aktuell haben sich die Fassenachter natürlich dem gesellschaftlich verordneten „Kampf gegen rechts“ verschrieben. Ganz vorn dabei: Andreas Schmitt, amtierender Präsident der wohl bekanntesten Karnevalssitzung der Republik, die immer noch knapp fünf Millionen Zuschauer vor den Bildschirmen versammelt. Wie es sich für einen Sitzungspräsidenten gehört, steigt Schmitt auch selbst in die „Bütt“. Dort zieht der Angestellte des Erzbistums Mainz und SPD-Lokalpolitiker in seiner Heimatgemeinde Nieder-Olm als „Obermessdiener“ vom Mainzer Dom vom Leder. Im Februar 2020 wurde er für seine „Büttenrede gegen rechts“ von den Medien enthusiastisch gefeiert. Kurz nach dem Terroranschlag in Hanau, der, wie sich später herausstellte, gar kein neonazistisches Attentat war, wurde seine „bitterernste Brandrede gegen rechte Hetzer“, so damals die „Süddeutschen Zeitung“, zum Hit im Netz. Sein Vortrag begann mit ein paar eher harmlosen Kalauern, dann redete sich Schmitt völlig unwitzig in Rage: „Die Demokratie, die werden wir schützen / Eure Gesinnung wird euch nix nützen / Unsere Kinder werden nicht mehr für euch erfrieren / Auf keinem Schlachtfeld mehr krepieren / Und auch nicht kämpfen bis zuletzt / Während ihr euch in den Führerbunker setzt.“ Tuffta, Narrhallamarsch, Kameraschwenk ins Publikum, wo Cem Özdemir von den Grünen saß, was ihm später in den sozialen Medien angekreidet wurde, weil man nach einem Ereignis wie dem in Hanau nicht Karneval hätte feiern dürfen.
Schon zuvor hatte Schmitt regelmäßig gegen die rechtskonservative Opposition gehetzt, mit dürftigen Pointen wie „vom Gauland zum Gauleiter ist es gar nicht so weit“ oder „Wenn Pegida und AfD zum Aufmarsch gehe / so viel Dummheit auf ei’m Haufen hat noch keiner gesehe“. In einem Phoenix-Interview zwei Tage vor der rheinland-pfälzischen Landtagswahl im März 2016 durfte sich der SPD-Genosse darüber echauffieren, dass „Rechtsradikale, fast kriminelle Elemente“ drauf und dran seien, in den Landtag einzuziehen, was sie dann auch taten, mit 12,6 Prozent der abgegebenen Stimmen.
2017 hatte der damalige rheinlandpfälzische AfD-Chef Uwe Junge die Prunksitzung demonstrativ verlassen, nachdem der Kabarettist und erklärte SPD-Sympathisant Lars Reichow sowie der altgediente Büttenredner Hans- Peter Betz die damalige AfD-Bundeschefin Frauke Petry als „Kräuterhexe“ und ihre Partei als „Bremsspur in der Unterhose Deutschlands“ bezeichnet hatten. Daraufhin gerieten die Fastnachter sogar aus den eigenen Reihen unter Beschuss. „Till“ Friedrich Hofmann legte seinen Kollegen nahe, lieber zum „Florett“ statt zum „Holzhammer“ zu greifen und weniger dem „Populismus“ zu huldigen als der „geschliffenen Form des Ausdrucks“.
Witz sollte lächeln, nicht verhöhnen
Dieser Einwurf erinnert an eine ähnlich gelagerte Kontroverse zwischen Ludwig Kalisch von der „Narrhalla“ und Eduard Reis, Herausgeber der konservativeren „Neuen Mainzer Narrenzeitung“. Letzterer schrieb: „Unser Scherz sollte anregen, der Spott sollte keinen Stachel haben, die Ironie sollte nur beschämen, aber nicht vernichten, der Witz sollte lächeln, aber nicht verhöhnen, der Humor sollte heilen, aber nicht verletzen. Die Narrheit hat nicht die Aufgabe, eine Doktorin der Moral zu sein.“ Doch Schmitt gefällt sich mittlerweile in der Rolle des grimmigen Recken gegen rechts und AfD-Fressers, für die er 2021 mit der Verdienstmedaille des Landes Rheinland-Pfalz geehrt wurde. Auch in der letztjährigen Fernsehsitzung gab es nach lauen Witzchen über Baerbocks Visagistin und Kevin Kühnert („hätte Helmut Schmidt nicht einmal den Kaffee mahlen dürfen“) wieder volle Breitseite gegen die Schwefelpartei: „Die AfD ist problematisch / sie war nie demokratisch / haut radikal rechts auf den Putz / ein Fall für den Verfassungsschutz“. Und weiter im Klartext: „Ich nenn sie gern die rechte Brut / mit völkischem Gedankengut / die skrupellos, man glaubt es nicht / von Deportation in Potsdam spricht.“
Schmitt teilte auch heftig gegen seinen Arbeitgeber, die katholische Kirche, aus – speziell gegen „Kirchenfürsten“ wie die Kardinäle Müller und Woelki. Dann kam er in Rübe-ab-Manier auf den Missbrauchsskandal zu sprechen: „Sperrt die Drecksäck ins Kittchen / und lasst sie nicht mehr raus“. Leute, die sich an Kindern vergriffen, seien „nicht therapierbar“. Übrigens: Drakonische Strafen gegen Missbrauchstäter fordert auch die AfD.
Karnevalisten als Wahlkämpfer
Im vergangenen Jahr rollte in Köln ein Motivwagen mit, der eine Figur mit heruntergelassener Hose und nacktem Hintern über mehreren zum Hitlergruß ausgestreckten Armen zeigte – an einem prangte das Logo der AfD. Das Männchen solle stellvertretend für alle Karnevalisten „sein Geschäft verrichten auf die Rechtspopulisten in diesem Land“, gab „Zugleiter“ Holger Kirsch zum Besten. „Das ist ein bisschen derber, aber ich glaube, wir sind an einem Punkt angelangt in diesem Land, wo es dazu keine Alternative mehr gibt.“ Das teilweise menschenverachtende Verhalten dieser Partei sei unerträglich, so Kirsch: „Und das gilt es abzustrafen.“ Auch in diesem Jahr steht die AfD auf den Rosenmontagszügen im Visier der Jecken. In Düsseldorf etwa ist Alice Weidel als Hexe abgebildet: Mit einem Hakenkreuz aus Lebkuchen lockt sie nicht Hänsel und Gretel, sondern zwei „Erstwähler“ in ihr „AfD“-Lebkuchenhaus.
Narren als Hilfswahlkämpfer. Erinnert sich eigentlich noch jemand an Rolf Braun, stets erkennbar an seiner kantigen Hornbrille? Von 1973 bis 1989 war der langjährige Mitarbeiter der Mainzer Staatskanzlei und zeitweilige Redenschreiber des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Helmut Kohl Sitzungspräsident von „Mainz bleibt Mainz“. 1978 hatte er dortselbst einen legendären Auftritt als Müllmann und konnte noch Witze reißen, die ihn heute wegen „Volksverhetzung“ geradewegs aus der Bütt vor den Kadi führen würden. Kostprobe gefällig? „Zwei Türken fressen im Duett / schon morgens Knoblauch um die Wett. / Das ist der Duft der weiten Welt / bringt Papa Freud und Kindergeld.“ Und weiter: „Is wo was los, gleich welche Ecke / dann sind da, kennste auch verrecke, / an all dem Ärger und Tumult / uff jede Fall wir Deutsche schuld. / Ich bin bestimmt kein Chauvinist / doch sag ich, weil es Wahrheit ist / wir reichen heute jedem Land / zur wahren Freundschaft unsre Hand / der Scheel reist um die ganze Welt / all sind se scharf auf unser Geld / doch darf man uns bei dieser Reise / nit dauern vor den Koffer scheiße / sonst machen wir den Deckel zu / dann hat die liebe Seele ihre Ruh.“
Braun trug das in breiter Mundart so sympathisch vor, dass eigentlich immer alle lachen konnten. Ganz anders Schmitt, dessen todernste Philippiken ein Wille zur Vernichtung des politischen Gegners durchzieht, der längst das Klima der öffentlichen Auseinandersetzung prägt. Spalten oder Umarmen? Während Schmitt unverhohlen hetzt und spaltet, schloss Braun seinerzeit mit einer rhetorischen Umarmung: „Ich hab in meiner Mülltonn’ unne / vor kurzem hier die Kapp gefunne / die sicher einer fortgeschmisse / der wollt von Fassenacht nix wisse / ich setz se uff, guck, wie se passt / so werd auch ich zum Enthusiast / für unser vaterstädtisch Fest / das niemand aus den Fängen lässt / ob Müllmann, Bäcker, Gassekehrer / ob Beamter, Doktor oder Lehrer / ob Bürgermeister und Minister / wir kämpfen gegen die Philister / und liebe unsre Fassenacht / seht, das is Meenz, wie’s singt und lacht.“ Prinz Karneval, der große Gleichmacher, unter dessen Narrenkappe damals noch alle passten, zumindest für die Zeit der Fassenacht. Heute sitzen die Philister mitten unter den Karnevalisten. Ein Trauerspiel.
Nachtrag:
In diesem Jahr konnte Schmitt wegen einer Erkrankung die Fernsehsitzung nicht leiten, an seiner Stelle übernahm Adi Guckelsberger, bislang als Nachtwächter in der Bütt. In schweren Zeiten, sagte er in einem Interview, habe die Fastnacht „immer wieder Halt und Zuversicht gegeben“.