Als der Bundestag im Herbst des Jahres 1949 zu seiner ersten Kanzlerwahl zusammentrat, war das ein guter Tag für Deutschland. Zwei Kandidaten standen zur Wahl, Kurt Schumacher von der SPD und Konrad Adenauer für die Union. Adenauer siegte mit der denkbar knappen Mehrheit von einer einzigen, wahrscheinlich seiner eigenen Stimme. Die SPD war enttäuscht und machte ihrem Ärger mit ein paar Zwischenrufen Luft, doch die drei Wörter „Mehrheit ist Mehrheit!“ genügten, um der Verfassung Geltung zu verschaffen. Damals noch.
Heute hätte das längst nicht mehr gereicht. Nachdem sich der Verfassungsbruch in Thüringen so glänzend ausgezahlt hatte, wird er jetzt auf einer höheren, auf Bundesebene geprobt. Geht es nach Rot und Grün, soll nicht die Mehrheit entscheiden, sondern die richtige Mehrheit; und was richtig ist, darüber entscheidet die Minderheit. Wenn die mit ihren Absprachen, ihren Drohungen und Insinuationen nicht durchkommt, spricht sie von Erpressung.
Ein kluger Engländer hatte die Mehrheitsregel einen Notbehelf genannt. Sie gelte nicht deshalb, weil sie gut sei, sondern weil sie weniger schlecht sei als alle anderen Versuche, unter den Bedingungen vorläufigen Wissens bindende Entscheidungen zu treffen. Das war zwar gut genug für John Stuart Mill, doch nicht für Jürgen Habermas. Um den Engländer auszustechen, beschwor er die Lieblingsfigur der Deutschen, die Idee. Die Mehrheitsregel gelte nur unter Vorbehalt, erklärte er. Sie müsse sich an der Idee messen lassen, „wie weit sich die Entscheidungen von den idealen Ergebnissen eines diskursiv erzielten Einverständnisses oder eines präsumptiv gerechten Kompromisses entfernen“.
Schwierige Frage. Denn wer entscheidet, wie weit der Mehrheitswille hinter dem zurückbleibt, was Habermas und seine Leute, die akademisch gedrillte Betriebskampfgruppe der Diskursethiker, einen präsumptiv gerechten Kompromiss oder ein diskursiv erzieltes Einverständnis nennen? Die Antwort gibt das Auditorium, das Habermas gewählt hatte, um seinen Angriff auf die Mehrheitsregel vorzutragen: eine Parteiversammlung, das Kulturforum der SPD.
Dort spielte er seine Lieblingsrolle, die Rolle des berufsmäßigen Wahrheitssagers. Eine Rolle, die Hannah Arendt aus gutem Grund verdächtig war. Der Philosoph, der sich auf den Kampf der Meinungen und Mächte einlässt, schrieb sie mit einem Seitenblick auf diese Leute, „degradiert auf jeden Fall seine Wahrheit zu einer bloßen Meinung, einer Ansicht unter viele möglichen und wirklichen Ansichten“.
Ein solcher berufsmäßiger Wahrheitssager ist Robert Habeck. Er hat getan, was Habermas verlangt hatte, ist auf Friedrich Merz zugegangen, hat den präsumptiv gerechten Kompromiss angemahnt und das diskursiv bewirkte Einverständnis gefordert – alles vergeblich. Merz hat die Zustimmung verweigert. Er hat sich auf sein Gewissen berufen und gewagt, den Anspruch der Politik auf Wahrheit zu bestreiten. Das musste bestraft werden, und so geschah es denn auch.
Die Aufgabe übernahm Rolf Mützenich, ein anderer berufsmäßiger Wahrheitssager, diesmal von der SPD. Zwei Tage nachdem Merz seine böse Mehrheit zusammengebracht hatte, organisierte Mützenich seine gute Mehrheit – gut nennt der erfahrene Diskursethiker alles, was ihm in den Kram passt. Habermas und seine Leute waren am Ziel, die Politik machte Ernst mit ihrer Drohung, wahr zu sein. Sie unterschied zwischen der richtigen und der falschen Mehrheit, und wer zur falschen gehörte, der musste aufpassen.
Denn Habermas hatte vorgesorgt. „Wenn die Repräsentativverfassung“, hatte er gelehrt, „vor einer konkreten Herausforderung, die die Interessen aller berührt, versagt, muss das Volk in Gestalt seiner Bürger, auch einzelner Bürger, in die originären Rechte des Souveräns eintreten dürfen“. Das tun die Bürger, auch einzelne Bürger nun, indem sie Parteibüros belagern, Türen verbarrikadieren, Ausgänge versperren, Farbbeutel werfen und Autos abfackeln. In Berlin passiert das alle paar Tage, früher unter der Regie des braunen Statthalters Joseph Goebbels, heute unter Aufsicht des angeblich regierenden Bürgermeisters Kai Wegner.
„Wir sind mehr!“ hieß das Motto, unter dem sich die fortschrittlichen Kräfte seinerzeit in Chemnitz versammelt hatten, um unter der Schirmherrschaft von Frank-Walter Steinmeier dafür zu werben, den Polizisten, die ihnen Schutz boten, die Helme vom Kopf zu schlagen. Das Motto war natürlich falsch, genauso falsch wie alles, was aus dieser Ecke kommt. Es war auch gar nicht nötig, denn die professionellen Wahrheitssager, die heute bei den Roten und den Grünen den Ton angeben, pfeifen auf die Mehrheit. Als sie noch jünger waren, pflegten sie unter der Parole „Wahrheit statt Mehrheit!“ die Hörsäle zu stürmen. Jetzt sitzen sie im Bundestag und trennen dort die guten von den bösen, die richtigen von den falschen Mehrheiten.
In seiner Neujahrsansprache hatte Steinmeier die Bedeutsamkeit der bevorstehenden Wahl hervorgehoben. Er hatte die Gelegenheit genutzt, vor den Gefahren einer Einmischung von außen zu warnen, und daran erinnert, dass die Entscheidung allein bei den wahlberechtigten Bürgern liegt – so wie das Grundgesetz es auch verlangt. Ob die Entscheidung der Wähler dann aber auch anerkannt wird, darüber entscheiden einige weise Männer und ebenso weise Frauen.
Sie prüfen, wie weit der Mehrheitsentscheid hinter den idealen Ergebnissen eines diskursiv erreichten Einverständnisses oder eines präsumptiv gerechten Kompromisses zurückgeblieben sein könnte. Wenn ihnen das so vorkommt, hat die Mehrheit ausgespielt. Dann entscheiden die professionellen Wahrheitssager, Männer wie Robert Habeck und Rolf Mützenich oder Frauen wie Nancy Faeser und Katrin Göring-Eckardt.