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Merz im ARD-Sommerinterview: Rufe aus der Parallelwelt

Markus Preiß nervt Friedrich Merz. Immer wieder piesackt der ARD-Moderator den Bundeskanzler mit der missglückten Wahl der Verfassungsrichterinnen. Und treibt ihn in allerlei Merkel-Momente. Merz verweigert mehrfach die Realität. Von Brunhilde Plog

picture alliance/dpa | Michael Kappeler

In welcher Welt lebt Friedrich Merz? Keine Ahnung, aber auf jeden Fall in einer sehr eigenen. Das wird bereits in den ersten Minuten dieses ARD-Sommerinterviews klar. Merz sieht Dinge, die kein anderer sieht. Und berichtet von Welten und Zuständen, die nie ein Mensch zuvor wahrgenommen hat. Eigentlich ein klarer Fall für das Lexikon der ungeklärten Phänomene: Spontanheiler, die Blinde wieder sehen lassen – oder Friedrich Merz, der auf Deutschland blickt. Schlüssig.

Hoch oben auf der Terrasse über der Spree will er in der Nachmittagssonne den lässigen Bundesarroganzler geben, doch das Sommerinterview beginnt für ihn gleich mit einem dreckigen Dutzend. Geschlagene zwölf Minuten lang (also mehr als ein Drittel der gesamten Sendezeit) konfrontiert ihn Markus Preiß mit der aktuellsten seiner vielen Niederlagen. Merz, der Kanzler der zweiten Wahl, soll erklären, warum die Berufung der beiden umstrittenen Verfassungsrichterinnenkandidatinnen am vergangenen Freitag partout nicht klappen wollte. Obwohl doch alles so hübsch geplant war. Der Unmut auf X & Co. war explodiert, Teile der Unionsfraktion hatten daraufhin ihre Zustimmung verweigert – die Wahlen scheiterten. Fraktionschef Jens Spahn düpiert, Merz mal wieder am Boden.

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Ob Spahn denn überhaupt der richtige Mann sei, um Geschlossenheit in die Fraktion zu bringen, will Preiß wissen. „Eindeutig ja“, antwortet Merz – und man spürt seine Zerrissenheit. Was soll er auch sagen, er hat ja schon mächtig Malaise mit dem aufgeplusterten Koalitionspartner SPD. Doch seine Augen können es nicht verbergen: Hinter den Kulissen dürfte es nach diesem Debakel ganz ordentlich gedonnert haben.

Beispielhaft für den desaströsen Zustand der Schuko (Schulden-Koalition) steht ein Foto, das Preiß gleich zu Beginn der Sendung einspielen lässt. Es zeigt Innenminister Alexander Dobrindt, Finanzminister Lars Klingbeil und Kanzler Merz, wie sie nach der gescheiterten Freitagswahl mürrisch von der Regierungsbank herab ins Leere blicken. Die Drei von der Zankstelle – das Bild erinnert an die letzten Zuckungen der zerstrittenen rot-grünen Koalition – nur mit dem Unterschied, dass die Schuko noch nicht einmal 70 Tage im Amt ist.

Doch wie reagiert Merz auf das Bild? Er tut, was sonst nur die bösen neuen Medien wagen: die Redlichkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Frage zu stellen. „Ich weiß gar nicht, ob das ein Bild vom letzten Freitag ist“, sagt er und macht eine Pause. Hofft er etwa auf Applaus, wie bei seinem Unsäglichen „Ja“ gegenüber Beatrix von Storch, mit dem er am Freitag das C aus der CDU löschte? Hier und heute ist nicht einmal Publikum da. Merkt er auch. Und versucht schnell umzudeuten, was schwerlich umzudeuten ist: „Nachdenklich zuhören tun wir auf der Regierungsbank gemeinsam häufiger.“ Ah ja.

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Als ob er die nächste Frage des Moderators bereits ahnen würde, bestreitet er, was noch gar nicht thematisiert wurde. „Das war am Freitag nicht schön. Aber das ist nun keine Krise. Keine Krise der Demokratie, keine Krise der Regierung.“ Man habe ja zum Beispiel 80 Punkte zur Abstimmung in den Bundesrat geschickt. Lauter tolle Gesetze komplett durchgebracht. Nein, nein, das da am Freitag sei nun wirklich „kein Beinbruch“.

Preiß lässt nicht locker: Schon bei der missglückten Wahl zum Bundeskanzler habe die Fraktion nicht klar hinter Merz gestanden. Doch auch das hat Friedrich, der Kriegstüchtige, irgendwie anders abgespeichert. Er sei doch „im zweiten Wahlgang ohne Probleme durchgegangen“, sagt er, und solche Stolpermomente seien heute eben ganz normal: „Das wird ein Stück weit Normalität werden.“

Dass Parteikollegen ihm und Spahn „eklatantes Führungsversagen“ vorwerfen, ficht ihn nicht an. Abstimmung sei eben Abstimmung, und „über allem steht die Gewissensfreiheit eines jeden Abgeordneten. Das machen wir beim nächsten Mal besser.“ Was genau er damit meint, und dass dies möglicherweise ein Widerspruch ist, kann man nur erahnen beziehungsweise befürchten.

Fürchten, gutes Stichwort. Für die Zeit nach der jetzt beginnenden Sommerpause kündigt Merz bereits Großes an. Große Belastungen nämlich für jeden einzelnen Bürger. „Wir stehen im Herbst vor schwierigen, weiteren Entscheidungen“, sagt er. „Wir werden schwierige Reformvorhaben für die sozialen Sicherungssysteme auf den Weg bringen müssen.“ Was das bedeutet? Von Zahnbehandlungen komplett auf eigene Rechnung wird gemunkelt, sagt Preiß. Und von einer 50-Euro-Zwangsabgabe bei jedem einzelnen Arztbesuch. Merz will sich nicht festlegen. „Das bereiten wir vor. Deswegen arbeiten wir auch die Sommerpause mehr oder weniger durch.“

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Preiß kommt, oh je, erneut auf die missglückte Richterwahl zurück, und bei Merz fährt die Laune erkennbar in den Keller. Ob denn eine persönliche Anhörung der Kandidatinnen, wie sie jetzt plötzlich geplant sei, die Vorbehalte in der CDU wohl ausräumen könnte, will der Leiter des ARD-Hauptstadtstudios wissen. Merz wiegelt ab: „Das kann ich heute nicht sagen. Wir werden es in Ruhe miteinander besprechen.“ Man werde „versuchen, gute Mehrheiten zu bekommen“. Schon wieder diese Drohung.

Immerhin, gibt Preiß zu bedenken, sei das Thema ja „in den sozialen Medien sehr stark diskutiert“ worden. Damit legt er Merz den Ball auf den Fuß. Es folgt ein Moment erstaunlicher Realitätsverweigerung. Merz: „Meine feste Überzeugung ist, dass große Teile der Bevölkerung das allenfalls aus dem Augenwinkel begleiten und an ganz anderen politischen Themen interessiert sind als an Richterwahlen.“ Dass die Einhaltung des Grundgesetzes und der Schutz des ungeborenen Lebens einem großen Teil der deutschen Bevölkerung offensichtlich nicht ganz so egal ist, kann er nicht erkennen. Und beschwichtigt: „Das Ganze ist undramatisch.“

Als Preiß immer noch nicht klein beigibt, kommt Merz schließlich an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Würden hier nicht überall Kameras herumstehen – wer weiß, was er dem garstigen Moderator antäte? „Bleiben Sie dabei, dass sie die Wahl dieser Kandidatin ihren Abgeordneten empfehlen?“, will Preiß wissen.

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Merz ist sichtlich genervt, und wäre das hier Dallas oder Denver-Clan, würde er wohl zum Whiskyglas greifen oder in seinen SL springen und einfach davonbrausen. Kann er aber nicht. Stattdessen gibt er den Angefressenen: „Ich habe es gerade gesagt, Herr Preiß, ich wiederhole es jetzt zum dritten Mal. Wir werden darüber in Ruhe mit der SPD sprechen. Und ich werde keine weiteren Ankündigungen – Sie können es vier- und fünf- und sechsmal versuchen – ich werde hier keine weiteren Ankündigungen machen.“

Was er indes ankündigt, sind weitere Kooperationen mit den Linken. Der Unvereinbarkeitsbeschluss aus dem Jahre 2017 gelte zwar noch, aber: „Wir arbeiten weder mit der AfD noch mit der Linkspartei zusammen. Das heißt nicht, dass man nicht im Parlament auch Abstimmungen haben kann, wo mal der Eine, mal der Andere bestimmten Vorhaben zustimmt.“ Die Koalition mit der SPD sei ohnehin „keine Liebesheirat, das ist eine Arbeitskoalition“.

Und Arbeit gibt es genug. In einem Einspieler fallen für die ARD ungewöhnliche Stichworte. Mitglieder der Jungen Union aus Brandenburg sprechen über Gedanken ans Auswandern und die Angst vor dem kollabierenden Rentensystem. „Wir wissen, dass wir Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung reformieren müssen“, sagt Merz, denn „dass die junge Generation sich ernsthafte Sorgen macht auch über die Finanzierbarkeit unseres Staates – diese Sorgen teile ich.“

Aber nur ein bisschen. Denn im selben Einspieler ist auch ein bemerkenswerter Clip zu sehen, in dem Merz freimütig erzählt: „Ich komme gerade aus dem Kanzleramt und habe zwei Kolleginnen noch gesagt: Wir müssen aufpassen, dass wir in unserer Arbeit im Bundeskabinett nicht in der Tagespolitik absaufen.“

Keine Zeit also für die alltäglichen Probleme? Vielleicht doch Zeit für einen Whisky.

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