Tichys Einblick
Parteiinterne Intrige

Causa Gelbhaar: Doppelter Gau für ÖRR und Grüne mitten im Wahlkampf

Belästigungsvorwürfe sollten Stefan Gelbhaars Karriere bei den Grünen vernichten. An vorderster Stelle: der RBB. Der muss nun zugeben, dass die Hauptzeugin frei erfunden war – womöglich von einer grünen Bezirkspolitikerin. Hat sich der RBB in eine parteiinterne Diffamierungskampagne einspannen lassen?

Stefan Gelbhaar (Bündnis90/Die Grünen), Berlin, 08.01.2025

picture alliance / Jörg Carstensen | Joerg Carstensen

Der Schlagzeilengott ist dieser Tage gnädig. Ein doppelter Gau, einen Monat vor der Bundestagswahl: für die Grünen und für die öffentlich-rechtlichen Medien. Und dann auch noch: mitten in Berlin.

Vor wenigen Wochen berichteten mehrere Medien mit Berufung auf den RBB über eine Belästigungsaffäre um den grünen Bundestagsabgeordneten Stefan Gelbhaar. Gelbhaar ist eines der bekanntesten Gesichter der grünen Verkehrspolitik. Gelbhaar fiel nicht nur wegen seiner autofeindlichen Vorstöße auf. Er forderte im März 2024 regelmäßige Fahrtests für Senioren. Der Grüne ist Mitglied im DB-Aufsichtsrat.

Gleich mehrere Frauen sollen von Gelbhaar belästigt worden sein. An die grüne Ombudsstelle habe es gleich mehrere Hinweise gegeben. Ein Opfer namens Anne K. steht im Mittelpunkt, sie gilt als Hauptzeugin. Trotz der vielen Vorwürfe gegen Gelbhaar gab es jedoch nie eine Anzeige bei der Polizei.

Gelbhaar wehrte sich: Es handele sich um Falschbehauptungen. Politisch brach ihm die Berichterstattung jedoch das Genick. Seine Kandidatur für ein Direktmandat verlor der Bundestagsabgeordnete gegen Julia Schneider. In ihrer Bewerbungsrede spielte sie auf die Vorwürfe gegen Gelbhaar an.

Zweifel an der Darstellung wuchsen, als der Tagesspiegel am Mittwoch von den Unterlagen erfuhr, die im Verfahren Gelbhaars gegen den RBB ins Spiel gebracht wurden. Eine „Anne K.“ existierte nicht, jedenfalls nicht unter der angegebenen Adresse, die sie dem RBB mitgeteilt hatte.

Ab dem Moment drehte sich der Spieß um. Gelbhaar war nun kein Belästiger mehr, sondern offenbar das Opfer einer Diffamierungskampagne. Der RBB hatte die Identitäten der angeblichen Opfer, an vorderster Stelle Anne K., nicht hinreichend untersucht. Der öffentlich-rechtliche Sender räumte bald ein: Anne K. existierte womöglich gar nicht. Dann ein Schritt weiter: Eine grüne Bezirkspolitikerin habe sich als „Anne K.“ ausgegeben.

Nun ist es nicht mehr Gelbhaar, sondern der RBB, der sich verteidigen muss. Der Sender hat sämtliche Beiträge zu dem Thema entfernt. Der „wesentliche Vorwurf“ gegen Gelbhaar sei nun wohl „nichtig“, andere Vorwürfe hätten eine deutlich „geringere Fallhöhe“. Das alles kommt anderthalb Wochen heraus, nachdem Gelbhaar demontiert, sein Mandat anderweitig vergeben wurde. Ein medialer wie politischer Skandal.

Der RBB erklärt sich in einer Sendung, indem ein RBB-Moderator einen RBB-Landesreporter befragt: „Haben wir da was falsch gemacht?“ Es folgt ein langer Eiertanz der Rechtfertigungen, der auf die Antwort hinausläuft: Nein. Ausschlaggebend waren die eidesstattlichen Versicherungen, bei denen die RBB-Journalisten davon ausgingen, dass sie die Aussagen wasserdicht machten. Das sagt allerdings nicht nur etwas über den RBB aus. Sondern auch über die harten Bandagen, mit denen von grüner Seite aus gekämpft wird. Auch auf linker Seite gilt das Bonmot des CDU-Kanzlers Konrad Adenauer: Feind, Erzfeind, Parteifreund.

Man kann konstatieren: Der RBB hat sich als Plattform für eine parteiinterne grüne Schmutzkampagne missbrauchen lassen. So ganz hat er jedoch sein Stockholm-Syndrom nicht überwunden, indem er die eigene Nabelschau vor die Wahrheit setzt, dass innerhalb des grünen Apparats eine gefährliche Portion strafrechtlich relevanter Rücksichtslosigkeit steckt. Der RBB hat mittlerweile die Frau, die Anne K. erfunden hat, wegen Betrugsverdacht angezeigt. Die Berichterstattung fasst die Grünen jedoch weiterhin mit Samthandschuhen an.

Der RBB-Gelbhaar-Komplex ist daher eine Gratwanderung. Den Schwerpunkt kann man unterschiedlich gewichten: Handelt es sich hier um Medienversagen? Oder steht der grüne Machtkampf im Vordergrund? Beide Fragen sind wichtig. Dass die öffentlich-rechtlichen Medien seit Jahren nicht die Ansprüche erfüllen, die sie als „Qualitätsmedien“ verlangen, und dass sie ihre „Fakten“ eben nicht „checken“, während sie sich andernorts mit Realitätsbestimmungsprogrammen dazu aufschwingen, über andere Meinungen zu urteilen, ist mittlerweile eine überstrapazierte Binsenweisheit.

Der tausendste Aufguss prinzipieller Medienschelte sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, was diesen Fall eigentlich interessant macht. Die Grünen werden im grünenkritischen Lager als monolithischer Block wahrgenommen. Das stimmt nicht. Auch dort gibt es Untergruppen, wenn auch die traditionellen Verortungen wie „Fundis“ und „Realos“ heute keine Bedeutung mehr haben. Wie in jeder Partei gibt es nicht nur ideologische Orientierungspunkte, sondern auch personelle. Und der Messiaskult um Robert Habeck ist allein deswegen schon einigen Parteifreunden nicht geheuer, weil er die eigene Karriere behindert.

Die Verhandlungen zur Ampelkoalition im Herbst 2021 kennt einen großen Verlierer. Er heißt Anton Hofreiter. Erstens, weil Hofreiters Lieblingsprojekt, nämlich das Tempolimit, nicht durchkam – übrigens eine Forderung, die bei den Jamaika-Verhandlungen 2017 entscheidend für ihr Scheitern war. Zweitens, und viel wichtiger: Hofreiter bekam nicht das ersehnte Verkehrsministerium. Die Quotenregelung tat ihr Übriges, sodass der grüne Mann leer ausging.

Hofreiter gilt parteiintern als Frontmann der Linken. Habeck hat ihn und diejenigen, die man früher als „Fundis“ bezeichnete, gedemütigt. Es mag aus konservativer Perspektive grotesk erscheinen, wenn sich die linke grüne Jugend abspaltet, weil die Grünen „zu rechts“ geworden seien, parteiintern drückt es jedoch eine anhaltende Spaltung aus, die sich immer weiter vertieft. Dass Habeck nach außen den Mittler spielt, sich intern aber zur absoluten Führungsfigur stilisiert, ist auch ein Versuch, die internen Rivalen zu entmachten.

Hier kommt Stefan Gelbhaar ins Spiel. Die Verkehrsrundschau schreibt im Januar 2022: „Wären Hofreiter oder Özdemir Verkehrsminister geworden, wäre Stefan Gelbhaar heute Staatssekretär.“ Mit diesem Vorspann beginnt ein Interview mit Gelbhaar, was unterstreicht, dass der Bundestagsabgeordnete genau dieser Ansicht war. Gelbhaar stand als Aushängeschild der Berliner Grünen und ihrer rigiden Verkehrspolitik in den Startlöchern für etwas Größeres. Das trifft 2021 wie 2025 zu. Die Belästigungsgeschichte spielte sich in Berlin mit Berliner Akteuren ab; Gelbhaars Ambitionen und Vernetzungen gehen jedoch weit über einen Bezirk hinaus.

Ohne Bundestagsmandat sind die Aussichten für Gelbhaar noch magerer, in eine aussichtsreiche Position zu kommen. Der Aufbau einer parteiinternen Anti-Habeck-Allianz ist schwieriger geworden. Die Diffamierungskampagne hat dabei noch einen weiteren, prominenten Nutznießer. Gelbhaar verzichtete auf eine Kampfkandidatur um Listenplatz 2. Dort steht jetzt Andreas Audretsch. Er ist Habecks Wahlkampfmanager.

Die Gelbhaar-Geschichte handelt deswegen nicht nur von Medienversagen und der immerwährenden Möglichkeit, gefährliche Rivalen mit Belästigungsvorwürfen kaltzustellen. Sie ist auch ein Fragment in der Genese des neuen Bündnis Robert Habeck. Ob direkt oder indirekt, bleibt Spekulation. Für manche Rückschlüsse braucht man mehr als anonyme Stichwortgeber per Telefon.

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