Wenn das führende Magazin des globalen Liberalismus zum Rundumschlag gegen Europas Meinungsfreiheitslage ansetzt, sollten alle Alarmglocken schrillen. Bereits vor einigen Wochen kritisierte der Economist in einem anschließend international viral gegangenen Beitrag den hoch besorgniserrechenden Zustand der Meinungsfreiheit in Deutschland und Europa:
In seiner aktuellen Titelgeschichte legt das Magazin nun nach und diagnostiziert nicht weniger als einen systematischen Angriff auf das Grundrecht der freien Rede in Europa – betrieben nicht von Diktaturen, sondern ausgerechnet von den selbstgefälligen Demokratien Europas.
„Prominente Beispiele sind Deutschland und Großbritannien“, schreibt das Blatt und lässt keinen Zweifel daran, dass beide Länder längst in einem Zustand legalisierter Zensur angekommen sind. Was unter dem Banner des „Hassrede“ oder der „sozialen Verantwortung“ betrieben werde, sei in Wahrheit, so der Tenor, eine autoritäre Machtdemonstration der politischen Klasse gegen ihre Kritiker.
Dass ein ehemaliger Vizekanzler hunderte Anzeigen gegen einfache Bürger stellte, weil er sich als „Idiot“ beleidigt fühlte, entlarve die politische Klasse als juristisch hochgerüstete Echokammer, als dünnhäutig und rachsüchtig.
In Großbritannien sei das System der Repression technokratischer, aber nicht weniger brutal. Die Polizei widme sich lieber beleidigenden Online-Posts als der Verbrechensbekämpfung. Täglich 30 Verhaftungen, Tausende durchforsteter Accounts: das ist die schäbige Bilanz eines Staats, der sich ins Digitale zurückzieht, um dort durchzuregieren. Der Economist bringt es trocken, fast höhnisch auf den Punkt: „Es ist viel einfacher, Instagram-Poster zu erwischen als Diebe.“
Dass in Frankreich ein Fernsehsender 100.000 Euro Strafe zahlen musste, weil er Abtreibung als führende Todesursache bezeichnete (eine gängige Ansicht unter Lebensschützern), illustriert die neue Logik der EU-Staaten: Schutz nicht vor Gewalt, sondern vor Meinungen.
Der Staat entscheidet, was gedacht werden darf. Alles andere wird finanziell, sozial oder juristisch zerstört.
Der perfideste Aspekt dieser Entwicklung aber liegt laut Economist in der strukturellen Anreizsetzung. „Wenn das Gesetz das Beleidigen verbietet, schafft es auch einen Anreiz, sich beleidigt zu fühlen“. Und diesen Anreiz nutzen Bürger wie Politiker bereitwillig. Die Polizei wird zur persönlichen Waffe. Kritik wird nicht mehr ausdiskutiert, sondern weggesperrt. Es ist das Ende des bürgerlichen Diskurses – mit „rechtlichen” Mitteln.
So entsteht eine „Tabu-Spirale“, wie der Economist es nennt: Je mehr Gruppen Sonderrechte beanspruchen, desto mehr Themen verschwinden aus dem öffentlichen Raum. Migration, Religion, Geschlechterpolitik: wer hier abweicht, lebt gefährlich. Es herrscht ein Klima der Einschüchterung. Wer sich äußert, riskiert das Hausrecht, den Job, den Strafbefehl. Das ist kein Fortschritt, nein, das ist ein Rückfall in autoritäres Denken.
Gerade weil diese Kritik zunehmend von populistischen Kräften vorgetragen werde, ducken sich Liberale weg. Ein fataler Fehler, warnt das Magazin. Denn: „Gesetze, die eine Seite zum Schweigen bringen, können genauso gut gegen die andere eingesetzt werden.“ Ein Argument, das bereits seit Jahren von diffamierten Kritikern vorgebracht wird.
Der Economist zieht daraus eine radikale Konsequenz: „‚Hassrede‘ ist so ein verschwommener Begriff, dass er abgeschafft werden sollte.“ Es braucht klare, enge, liberale Regeln. Keine politisch dehnbaren Gummiparagraphen. Verleumdung? Zivilrechtlich. Gewaltaufrufe? Strafbar. Aber verletzte Gefühle? Nicht das Problem des Staates.
Und zum Schluss der Satz, der wie ein eisiger Wind durch Europas selbstgerechte Debattenhallen fegt:
„Wenn Staaten zu viel Macht über Meinungsäußerungen haben, werden sie diese früher oder später auch nutzen.“
Der Economist spricht hier nicht hypothetisch. Er beschreibt einen Prozess, der längst im Gange ist und bei dem Europa längst dabei ist, sich selbst darin zu verlieren.
Abermals hat sich nun Friedrich Merz zur Kritik von J.D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz geäußert und diese als „übergriffig“ abgebürstet. Wenn Merz die fundamentale Kritik von Vance dermaßen leichtfertig und arrogant abtut, verkennt er nicht nur den Ton, sondern den Kern der Debatte, und zwar kolossal. Statt sich mit den von Vance gut belegten Vorwürfen zur Einschränkung von Meinungsfreiheit ernsthaft auseinanderzusetzen (darunter Strafanzeigen gegen harmlose Äußerungen, politische Zensur im Netz und ein zunehmend repressives Meinungsklima), wählt Merz reflexhafte Abwehr. Doch wer berechtigte Kritik an rechtsstaatlichen Fehlentwicklungen einfach als unverschämt für beendet erklären möchte, belegt vor allem eines: dass ihm das institutionelle Selbstbild wichtiger ist als die tatsächliche Verfassung der Debatte in diesem Land.