Sehr geehrte Frau Merkel,
das Erscheinen Ihrer Biographie möchte ich zum Anlass nehmen, einige Erinnerungen wachzurufen, die mich in gewisser Weise persönlich mit Ihnen verbinden, und einige Bemerkungen zu Ihrem Einfluss auf die Entwicklung dieses Landes zu machen. Anhand dieser Erinnerungen möchte ich Ihnen schildern – und mir selbst vor Augen führen – wie sich meine Wahrnehmung von Ihnen im Laufe der Jahre verändert hat.
Wir haben nie miteinander gesprochen, aber wir sind uns oft begegnet, wenn man so will. Vielleicht sollte man es etwas neutraler ausdrücken: Unsere Wege haben sich gekreuzt, wahrscheinlich ohne, dass Sie es bemerkt haben. In einigen Konzertsälen, vor allem aber in Bayreuth, wo wir in den Nullerjahren sogar zeitweise im selben Hotel – eigentlich eher eine Pension – logierten, nämlich im Waldhotel Stein. Ich fand es sehr sympathisch, dass Sie sich für diese schlichte Hotelanlage (eine Ansammlung kleiner Häuser) in Seulbitz mit Blümchentapeten und Möbeln aus den 70er Jahren begeistern konnten. Frau Stein hatte das Anwesen von ihrem Vater geerbt, der es ursprünglich als Diabetesklinik betrieben hatte. Als ich jedoch eines frühen Morgens Zeuge wurde, wie Frau Steins Katze die Butter vom Frühstückstisch leckte, ließ meine Begeisterung etwas nach. Außerdem hatte ich in der Zwischenzeit eine andere, ebenso bescheidene Pension weiter außerhalb von Bayreuth ausfindig gemacht. Das mit der Butter und der spartanischen Einrichtung hat Sie offensichtlich nicht gestört. 29 Mal sollen Sie dort abgestiegen sein, so steht es jedenfalls in der Presse. Bei mir waren es nur vier oder fünf Mal. Ihre Aufenthalte waren von wenig Prunk begleitet, nur ab und zu sah man mal Ihre Leibwächter.
Es wurde immer viel Aufhebens darum gemacht, dass Sie Physiker sind und dass Sie die Probleme vom Ende her denken. Anfangs hat mich das als gelernten theoretischen Physiker neugierig gemacht, doch je mehr ich mich mit Ihrem Regierungshandeln beschäftigt habe, desto mehr hat mich diese als Zeichen der Wertschätzung gemeinte Hervorhebung abgestoßen, weil sich Ihre Herangehensweise an politische Aufgaben meist als völlig unwissenschaftlich erwiesen hat. Denn bei der Erforschung eines Naturphänomens ist offen, was am Ende als Erkenntnis herauskommt. Man muss sich bei jedem Schritt genau Rechenschaft darüber ablegen, ob eine Versuchsanordnung zu einem Erkenntnisgewinn führt oder nicht, und man denkt die Dinge nicht vom Ende her! Eine ähnliche Disziplin ist in allen Naturwissenschaften erforderlich, insbesondere in der Mathematik, wo ein einziger Denkfehler eine ganze Beweiskette wertlos machen kann. Viele scheitern im Studium an der Disziplin und der Anerkennung der Realität, in der sich Theorien immer wieder bewähren müssen.
Sie sind zweifellos verantwortlich für das größte gesellschaftspolitische Experiment unseres Landes. Ein Experiment, das nicht scheitern darf, hat man es gelegentlich genannt. Als Sie kürzlich in Berlin Ihr Buch vorgestellt haben, bin ich zufällig am Breitscheidplatz vorbeigekommen und an den „Merkel-Pollern“, wie die Rammschutz-Poller gelegentlich genannt werden, die den Platz zur Festung machen. Sie scheinen von Jahr zu Jahr ausgeklügelter zu werden und stehen inzwischen in allen deutschen Städten symbolisch für das Scheitern des Experiments. Diese neuen Stadtmauern werden wohl die bleibenden Denkmäler Ihrer Zeit sein.
Ihre Buchpräsentation hat dafür wieder eindrucksvolle Beispiele geliefert. Natürlich kam in diesem Zusammenhang auch die unkontrollierte Einwanderungspolitik zur Sprache. Sie haben angedeutet, dass Sie die Verantwortung für mögliche Probleme bei der „Aufnahmegesellschaft“ sehen, da diese die Voraussetzungen für die Integration schaffen müsse: „Ohne die Offenheit und Veränderungsbereitschaft der aufnehmenden Gesellschaft kann es keine Integration geben. Voraussetzung ist ein Mindestmaß an Wissen über andere Kulturen, ich muss mich schon dafür interessieren.“ Diese Aussage ist ein gutes Beispiel für Ihre Neigung, undefinierte und daher nicht beweisbare Behauptungen aufzustellen.
Genauer betrachtet impliziert Ihre Aussage zwei Hypothesen. Erstens: Sie halten es für prinzipiell möglich, dass Integration unter unbestimmten Rahmenbedingungen (jedenfalls solchen, die im Wesentlichen Sie geschaffen haben) gelingen kann. Zweitens: Da dies möglich ist, liegt die Verantwortung bei der aufnehmenden Gesellschaft. Ahmad Mansour hat Sie dafür im Focus bereits scharf kritisiert. Ich möchte dem hinzufügen, dass Ihre Argumentation nichts mit der eines seriösen Wissenschaftlers (oder Politikers) zu tun hat. Zum einen würde dieser nämlich definieren, wie erfolgreiche Integration denn eigentlich definiert und gemessen wird. Was aber genau die Aufgaben der Aufnahmegesellschaft sein sollen, wird von Ihnen nie definiert. Alles bleibt im Vagen, ebenso wie die möglichen Pflichten der Zuwanderer. Weil Sie das alles offen lassen, brauchen Sie Ihre „Theorie“ auch nicht an den unzähligen Messerattacken, den fast täglichen Massenvergewaltigungen, den Belästigungen von Nicht-Muslimen in Schwimmbädern und auf Schulhöfen, den absurden Belastungen unserer Sozialsysteme zu überprüfen. Stattdessen rollen Sie den großen Teppich der Bürgerverantwortung aus und schieben alles darunter.
Auch das berühmte „Wir schaffen das!“ ist ein solches „Kaderwelsch“, wenn Sie mir diesen alten Kalauer aus Ihrem Geburtsland erlauben. Das Pronomen verweist auf nichts – bestenfalls auf etwas Unbestimmtes, das sich der Adressat zusammenreimen muss. Es ist also eine leere Behauptung und daher nicht beweisbar. Richtig, es ist auch nicht widerlegbar, und darauf kommt es Ihnen wohl an. Das ist die perfekte Risikominimierung. Da kann man Ihnen nichts anhängen! Damit haben Sie ein Netz von leeren Begriffen und Aussagen dem Verstand der Bürger überworfen (um eine andere Formulierung von Victor Klemperer aufzugreifen), deren Ziel es wohl war, jeden kritischen Geist auszuschalten. Auch ihre Epigonen haben sich solcher leeren Sprachkapseln oder Chiffren bedient. „Der Islam gehört zu Deutschland“, „Es wird eine gute Lösung geben“, „Dann ist das nicht mein Land“ sind Beispiele dieser Art. Es gibt übrigens deutliche Parallelen zwischen Ihrer Glaubenssprache und der im links-grünen Spektrum so sehr geförderten Identitätspolitik, denn auch die Grundhypothesen dieser akademischen Sumpfblüten (struktureller Rassismus, Formung der Wirklichkeit durch Sprache) sind prinzipiell weder beweisbar noch falsifizierbar.
Politiker der Regierungsparteien kündigen dann ein härteres Durchgreifen gegen diese oder jene Gruppe an, allerdings mit dem stillschweigenden Verständnis, dass ohnehin nichts davon umgesetzt wird. Dann kommt die Phase der Resilienz („Wir lassen uns Weihnachten nicht verbieten!“), und danach wird wieder zum „Kampf gegen Rechts“ (auch so eine beliebte Sprachkapsel) übergegangen und versprochen, ihn jetzt noch entschiedener führen zu wollen, weil man dann wieder bequem alles auf die AfD schieben kann. Mit anderen Worten: Die unter dem Stockholm-Syndrom leidende bürgerliche Mitte – sie hält sich ja für die mangelhafte Integration der Hinzukommenden verantwortlich – wird dann wieder zur Tagesordnung übergehen.
Ich will hier nicht auf die vielen anderen Versäumnisse eingehen, für die Sie nicht allein verantwortlich sind – sicher nicht in dem Maße wie für die Integrationspolitik –, aber doch zu einem großen Teil. Infrastrukturkahlschlag, Bundeswehr, Energiepolitik. SPD und Grüne haben eifrig weiter an den Schrauben gedreht, die Sie schon kräftig angezogen hatten. Auch die Euro-Rettungspolitik wird nicht nachhaltig sein. Die Rechnung kommt noch.
Vielleicht war das Ihre letzte große Stunde. Ich hoffe es jedenfalls und werde Ihr Buch nicht lesen. Ich erachte es einfach nicht als hilfreich. Mir genügt, was ich aus den Vorberichten und den rasch erschienenen Rezensionen darüber erfahren habe. Ehrlich gesagt habe ich mich auf den Tag gefreut, an dem ich genau diese Worte über Ihr Buch schreiben würde. Sie erinnern sich, es waren diese Worte, mit denen Sie das Buch von Thilo Sarrazin in den Bereich des Unantastbaren verwiesen haben. Natürlich waren Sie nicht die einzige, die den politischen Diskurs in dieser Republik vergiftet haben. Sie hatten die Grünen und die Linken auf Ihrer Seite und später auch den traurigen Rest der CDU. Alle haben Sie brav eingestimmt in diese unheimliche Schwüle der Denkverbote. Aber Sie waren die Galionsfigur. So viele kritische Stimmen wurden von dieser Lawine der Ignoranz überrollt, wie Thilo Sarrazin und Samuel Schirmbeck, um nur zwei zu nennen. Selbst renommierte Forscher wie Susanne Schröter müssen mit aller Kraft gegen eine Front der Ignoranz ankämpfen. Ihre Saat ist aufgegangen.
Die Bundesrepublik hat (mindestens) zehn verlorene Jahre aufzuholen. Ob dies theoretisch noch möglich ist, sei dahingestellt. Dazu müsste man erst einmal formulieren, wohin die Reise gehen soll. Vielleicht haben wir auch schon die Schwelle überschritten, wo es möglich ist, einen realistischen Stabilitätszustand zu definieren. (Sie erinnern sich? Da gab es mal eine Leitkulturdebatte.) Insofern hätten Sie nachhaltig gewirkt. Leider liegt die CDU am Boden. Einige Tapfere versuchen, aus der Konkursmasse vorsichtig wieder Substanz zu gewinnen. Friedrich Merz ist eine schwache Führungspersönlichkeit. „Tief wohl sank das Geschlecht, das solche Zagen gezeugt“, urteilt Brünnhilde über den schwachen Gunther, um noch einmal die Wagner-Welt zu bemühen. Die Rahmenbedingungen, die sie geschaffen haben, lassen wohl nichts Substanzielles mehr zu. Man wird sehen, wie es nach den Wahlen weitergeht. Zu befürchten ist, dass der bereits eingeleitete Wohlstandsverlust immer greifbarer wird. Man darf gespannt sein, wie sich die Dinge in diesem Land entwickeln, wenn die mit Brot und Spielen sedierten Menschen wieder in die Realität zurückkehren müssen.
Leben Sie wohl! Ich halte es für unwahrscheinlich, dass Sie zu einer höheren selbstkritischen Einsicht gelangen. Immerhin wollen Sie kein politisches Amt mehr anstreben. Das halte ich Ihnen zu Gute! Insofern können wir uns nach diesem letzten Tusch mit der Veröffentlichung Ihrer Memoiren, die Sie, der in der Corona-Phase bereit war, so ziemlich alle Freiheitsrechte einzuschränken, ganz unironisch „Freiheit“ genannt haben, ganz von Ihnen lösen. Übrigens, das Waldhotel Stein wurde nach dem Tod von Frau Stein im Jahr 2020 geschlossen und wird wohl auch nicht mehr wieder eröffnet werden. Der neue Besitzer soll versucht haben, ein Geschäftsmodell zu entwickeln, indem er die Zimmer an Flüchtlinge vermietet. Das Schicksal nimmt manchmal wahrlich Wendungen, die sich kein Schriftsteller je hätte erlauben können.
Bernd Fischer, Studium der Physik und Mathematik in Köln und Boca Raton mit Promotion. 25 Jahre in leitenden Positionen in der Finanzbranche, zahlreiche Fachveröffentlichungen, seit 2020 freier Publizist mit eigenem Blog "Philippicae".
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