Tichys Einblick
Causa Verdachtsfall

Wie der Verfassungsschutz das AfD-Programm missverstehen will

Ein tausendseitiges Gutachten des Verfassungsschutzes von 2021 soll belegen, dass die AfD ein „rechtsextremistischer Verdachtsfall“ sei. Was genau das sein soll, wurde nie gesagt. Dem ganzen Text fehlt es an Logik, Umsicht und – anscheinend – Welterfahrung.

picture alliance / HMB Media | Marco Bader

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ So heißt es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. So gesehen kann es eigentlich nicht grundgesetzwidrig sein, wenn sich ein Einzelner oder eine Partei über dieses Volk Gedanken macht und versucht, darüber ein paar schlüssige Worte zu formulieren. Die AfD tat das in ihrem Grundsatzprogramm von 2018. Doch das führte auf Umwegen dazu, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz die Partei 2021 zum „rechtsextremistischen Verdachtsfall“ erklärte, eine Einordnung, die der Partei bis heute nachhängt.

Nun verbirgt der Verfassungsschutz sein eigenes Tun eher, als dass er es zeigt. Viel mehr als den Wortfetzen „rechtsextremistischer Verdachtsfall“ hat die Öffentlichkeit bislang nicht zum Thema AfD erfahren. Ein Geheimdienst handelt im Geheimen, könnte man nun sagen. Der Verfassungsschutz äußert sich „grundsätzlich nicht zu internen Arbeitsabläufen“, heißt es in einer Antwort an die Nachrichtenwebsite Netzpolitik.org. Aber inwieweit ist seine Einschätzung dann überhaupt nachprüfbar? Was darf man sich denn unter einem „rechtsextremistischen Verdachtsfall“ vorstellen? Das blieb bisher weitgehend unklar. Nun hat Netzpolitik ein tausendseitiges Gutachten zur AfD veröffentlicht, das der Verfassungsschutz bisher verschlossen hielt.

Liest man dieses Gutachten nur oberflächlich entlang der Überschriften, dann scheint es „tatsächliche Anhaltspunkte“ dafür zu geben, dass die AfD „Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“ verfolgt. Und diese Anhaltspunkte „von hinreichendem Gewicht und in hinreichender Anzahl“ bedingen demnach – trotz des Grundsatzes der Parteienfreiheit – eine Beobachtung der AfD und die Abfassung solch eines Berichts. Aber welche sind nun diese Bestrebungen und wie würden andere sie bewerten? Hält das Urteil der Autoren der allgemeinen Vernunft stand? Das muss und kann sich nun erst noch erweisen.

Der Partei und ihren Mitgliedern werden in dem „Folgegutachten zu tatsächlichen Anhaltspunkten für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung in der Alternative für Deutschland“ Verfehlungen in mehreren Bereichen vorgeworfen. Den Anfang macht das Verdachtsmoment „völkisch-nationalistischer Aussagen und Positionen“. Dann geht es über angeblich fremdenfeindliche, islamfeindliche und antisemitische Aussagen und Positionen bis hin zur Infragestellung des „Demokratieprinzips“, des „Rechtsstaatsprinzips“ und zur „Verunglimpfungen des Staates und der Parteien“ durch die AfD und deren Vertreter. Daneben geht es auch um „Positionierungen zum Nationalsozialismus“. Eher Indiziencharakter tragen die Darlegungen zu „Verbindungen zu Gruppierungen, Organisationen und Einzelpersonen aus dem rechtsextremistischen Spektrum“. Das geht so etwa in die Richtung des Potsdamer Treffens, wo sich ja auch vielfältige Kreise trafen und überschnitten. Dass eine Partei ein Vorfeld haben soll, das ihr nicht direkt zuzuordnen ist, ist dabei nichts Neues. Es sollte lediglich nicht gewaltbereit oder offen gewalttätig sein.

Für das Gutachten wurden nur öffentlich zugängliche Aussagen untersucht, darunter Äußerungen von 650 AfD-Funktionären, von denen 302 auch im vorliegenden Bericht auftauchen. Allerdings war die anhaltende Parteimitgliedschaft keine Voraussetzung für die Aufnahme in den Bericht. Es kommen also auch Äußerungen von ehemaligen, inzwischen ausgetretenen oder ausgeschlossenen Parteimitgliedern vor.

Wie die AfD unser Vertrauen erschüttern will

In seiner Begründung spießt der Verfassungsschutz aber oft genug Aussagen auf, die vor common sense nur so triefen, also jedenfalls im engeren Rahmen des Vernünftigen liegen sollten. So etwa dieser Satz aus dem Programm der brandenburgischen AfD zur Landtagswahl 2019: „Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Ordnung und Pflichtbewusstsein gegenüber den Brandenburgern müssen in unserem Landtag wieder eine Selbstverständlichkeit werden.“ Für den Verfassungsschutz ist das eine Kritik an den übrigen Parteien. Die Autoren zählen noch mehrere solcher „Beschimpfungen, Verdächtigungen, Verleumdungen und Verunglimpfungen des Staates und seiner Repräsentanten“ (das sind die anderen Parteien) auf, bei denen es angeblich „nicht mehr um Kritik und Auseinandersetzung geht“, sondern um anderes, Größeres.

Dabei gehen die Autoren aber von gleich zwei wackeligen Annahmen aus. Einerseits soll solche (in diesem Fall sehr indirekt geäußerte) Kritik dazu dienen, das „Vertrauen der Bevölkerung in die verfassungsmäßige Ordnung von Grund auf zu erschüttern“, und dabei soll es angeblich darum gehen, diese freiheitliche demokratische Grundordnung (FDGO) schlussendlich zu beseitigen. Alles nur, weil man zu „Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Ordnung und Pflichtbewusstsein“ im Landtag aufruft?

Kurz davor hatte den Verfassungsschützern ein anderes Zitat nicht gefallen, in dem es hieß, Preußen sei zur Zeit der Weimarer Republik ein „Bollwerk der Demokratie gegen die demokratiefeindlichen Kräfte der Kommunisten und Nationalsozialisten“ gewesen. Die Brandenburger AfD sah sich 2019 in ähnlicher Weise als „Bollwerk gegen undemokratische Verhaltensmuster der Altparteien“. Konnte man es der viel geschnittenen Partei verübeln? Ja, man konnte. Das Paradoxe ist, dass der AfD nicht nur Verächtlichmachung des Staates und der anderen Parteien vorgeworfen wird, sondern auf der anderen Seite auch ein Sägen an der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Nur belegen die eben gebrachten Zitate ja gerade, dass es der AfD zumindest in Brandenburg vor allem darum geht, dass der Landtag demokratisch funktioniert. Der Vorwurf, der hier gemacht wird, verträgt sich schlecht mit dem offensichtlichen Demokratie-Pathos der AfD.

Alarmwort „politisch-medialer Komplex“

Ähnlich ist es, wenn der thüringischen AfD eine Aussage zum Vorwurf gemacht wird, mit der sie das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG, auch Facebook-Gesetz genannt) von 2017 kritisiert, das weithin als mögliche Einschränkung der Meinungsfreiheit gesehen wurde und wird, während seine Macher vorgeben, einen Kampf gegen (nicht strafbare) „Hassrede“ im Internet führen zu wollen. Die AfD Thüringen meinte dazu: „Eine staatliche Zensur darf es ebenso wenig geben wie eine von der öffentlichen Gewalt erzwungene Zensur durch Privatunternehmen … Solche Beschränkungen des Internets, die z. B. in China oder im Iran üblich sind, wird es mit uns nicht geben.“ Aber wenn diese Äußerung über ein vertretbares Maß hinausgehen soll, dann wäre jeder Vergleich hiesiger Gesetze mit denen anderer, auch totalitärer, Staaten neuerdings verboten – auch Vergleiche mit der DDR.

Man kann sich denken, dass alles, was in AfD-Kreisen zu „Blockparteien“, „Kartellparteien“ usw. gesagt wird, demselben Odium anheimfallen soll. Etwa wenn Alexander Gauland 2019 sagte: „Und heute ist die Union so rot-grün wie alle Blockparteien auch. Was den Opportunismus angeht, liebe Freunde, zeigt die CDU durchaus SED-Qualitäten. Elf Minuten Standing Ovations für ein Plattitüden-Festival der Vorsitzenden. Die haben schon Ostblock-Format.“

Ja, schon ein Buchstabensalat wie „CDUSPDFDPGRÜNELINKE“ könnte in Verbindung mit der Chiffre „Kartellparteien“ dazu führen, dass eine Äußerung als demokratiekritisch wahrgenommen wird.

Daneben wird aber auch das Positionspapier „Für eine lebendige Demokratie“ der Thüringer AfD-Landtagsfraktion kritisiert, etwa für Aussagen, denen zufolge „sich die Bürger einer zunehmend doktrinär propagierten Einheitsmeinung ausgesetzt“ sähen, dies freilich nicht nur durch die politischen Parteien, sondern auch durch die Medien. Womit wir bei einem weiteren Alarmwort dieses Verfassungsschutz-Reports wären: „politisch-medialer Komplex“. Wer dieses Wort benutzt, steht quasi schon mit einem Bein auf verfassungswidrigem Gebiet. Dass in den Rundfunkräten vor allem auch Politiker sitzen und dass auch große private Medien vielfältig mit Politik und Parteien verbunden sind, scheint den Verfassungsschützern zu entgehen.

Der Austausch gelingt auch ohne homogenes Volk

All das sind aber vielleicht schon die Nachhutgefechte um diese Partei. Ausgerechnet Oskar Lafontaine hat jüngst daran erinnert, dass einst ja auch die Grünen vom Verfassungsschutz überwacht wurden, und er sich trotzdem für Koalitionen mit dieser damals noch ziemlich buntgewürfelten Truppe einsetzte. Worum es bei den Grünen kaum gehen konnte, darum geht es bei der AfD-Beobachtung: um die Behauptung, die Partei vertrete einen „völkisch-abstammungsmäßigen Volksbegriff“.

Begriffe wie „Umvolkung“ und „großer Bevölkerungsaustausch“ stehen demnach auf dem Index. Sie sollen zudem angeblich logisch unmöglich geworden sein, da es kein abstammungsmäßig bestimmtes Volk mehr gäbe. Aber genau das darf man bezweifeln. Einen „großen Austausch“ kann man beobachten oder durchführen, ganz gleich, ob die vorausgehende Besiedlung homogen war – was im westlichen Mitteleuropa ohnehin ausgeschlossen ist – oder nicht.

Die AfD hat in ihrem Grundsatzprogramm von 2018 gleichsam ganze Arbeit dazu geleistet und eine fast schon philosophische Definition gefunden. In diesem „Programm für Deutschland“ wird festgestellt, dass „Kultur … die zentrale Klammer“ sein müsse, in der „sich auch ein neues Politikverständnis sehen muss“. Weiter heißt es: „Unser aller Identität ist vorrangig kulturell determiniert. Sie kann nicht dem freien Spiel der Kräfte ausgesetzt werden. Vielmehr soll ein Bewusstsein gestärkt werden, welches kulturelle Verbundenheit wahrnimmt, fördert und schützt.“ Übrigens bezeichnet „Ethnie“ oder „Volk“ heute gemäß wissenschaftlichem Konsens genau das: eine durch gemeinsame Kultur und meist Sprache geeinte Menschengruppe.

Mit Merkel gegen Multikulti

Schon damit sollte eigentlich klar sein: Die AfD steht laut Grundsatzprogramm zu einem kulturellen Volksbegriff. Eine weitere Tatsachenbehauptung im selben Grundsatzprogramm von 2018 missfiel den Verfassungsschützern ebenfalls sehr: „Dass die Geburtenrate unter Migranten mit mehr als 1,8 Kindern deutlich höher liegt als unter deutschstämmigen Frauen, verstärkt den ethnisch-kulturellen Wandel der Bevölkerungsstruktur.“

Dieser Satz zeigt laut den Verfassungsschützern, „dass die AfD auch in ihrer Grundsatzprogrammatik die Identität das Volkes eben nicht (nur) kulturell versteht, sondern durchaus auch ethnisch rückkoppelt“. Aber das sind schon ziemlich papierene Unterscheidungen. Denn die Grundlagen für eine andere Kultur (des Zusammenlebens etc.) liegen ja eben auch in der Ethnie. Insofern kann auch eine politische Partei, egal welche, dies nicht bestreiten.

Und zuletzt kann man der einstigen Haldenwang-Behörde die Pointe nicht ersparen: Folgt man den Verfassungsschützern, dann wären auch die CDU und deren Parteichefin von 2010 einem „völkisch-abstammungsmäßigen Gesellschafts- und Volksverständnis“ erlegen. Denn da sagte Angela Merkel den denkwürdigen Satz: „Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert!“ Die Kanzlerin sprach dabei auch durchaus vom „christlich-jüdischen Erbe“, das den Großteil der deutschen Traditionen präge. Lang ist es her, und vermutlich waren es auch damals schon eher Leerformeln für Merkel.

Als die Thüringer AfD 2018 glaubte, dass die „multikulturelle Gesellschaft“ die „unhinterfragten Selbstverständlichkeiten“ einer Gesellschaft und damit letztlich deren Rechtsordnung in Frage stelle, kam dem Verfassungsschutz eben dies verdächtig vor. Der AfD gehe es offenbar weniger um eine Kritik an der bestehenden Integrationspolitik, vielmehr werde das „Zusammenleben verschiedener Kulturen generell als problematisch angesehen“. Und das könnte in der Tat so sein. Nur warum sollte es verfassungsfeindlich sein, wenn 2010 die damalige CDU-Chefin und spätere „Mama Afrika“ genau das behauptet hatte?

Mohammed als häufigster Name – keine Islamisierung?

Zuletzt muss man wohl noch einige Worte zur Islamkritik in der Programmatik der AfD verlieren. Denn dieses Themenfeld ist vielleicht zentraler für die Verfassungsschutz-Einschätzung, als man zunächst denken mag. Die AfD hat in ihren Programmen seit vielen Jahren deutlich gemacht, dass sie die „Ausbreitung des Islams“ in Europa nicht hinnehmen will. Dazu hieß es etwa im EU-Wahlprogramm von 2019, die „Politik der Grenzöffnung“ seit 2015 werde „einen Kulturabbruch historischen Ausmaßes zur Folge haben“. Der Verfassungsschutzbericht bemängelt dieses Denken, in dem der „Zuzug von muslimischen Gläubigen … als aggressives Vordringen des Islam bezeichnet“ wird. Es werde nicht zwischen dem Islam als Religion und dem Islamismus als politischer Ideologie differenziert und dem Islam „pauschal vorgeworfen, eine Gefahr für die Demokratie und Kultur zu sein und Europa einnehmen zu wollen“.

All das ordnet der Bericht unter „muslimfeindliche Aussagen und Positionen“ ein. Die wirkliche Natur des Islams scheint dem Verfassungsschutz ohnehin eher verborgen. Eine Grenze sieht er dort überschritten, wo die AfD „Verbote von Minaretten, dem Muezzin-Ruf und öffentlichen Freitagsgebeten“ fordert. Diese Forderungen würden „eine deutlich gegen den Islam gerichtete Grundtendenz“ offenbaren, die „mit dem Gebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates nicht vereinbar ist“. Das aber ist eine merkwürdige Einordnung. Denn die AfD ist ja nicht der Staat. Sie will staatspolitische Verantwortung, also Regierungsverantwortung übernehmen, aber in dieser Rolle könnte sie durchaus etwas dafür tun, dass Religionsfreiheit so gesehen und gehandhabt wird, wie es aus ihrer Sicht richtig ist. Muezzinrufe gab es bis vor kurzem nicht in Deutschland, in der Schweiz sind Minarette seit 2019 verboten, öffentliche Freitagsgebete sind bisher nur aus England vermehrt bekannt. Auch das nennt sich Politik, soll hier aber schon im Beginn abgewürgt werden.

Im Übrigen gesteht sogar das Gutachten ein, dass der Satz „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“ für sich betrachtet noch „keine Verfassungsschutzrelevanz“ begründet. Warum er relevanter werden soll, wenn man die zunehmende Islamisierung des Landes als Bedrohung empfindet, erschließt sich nicht.

Und wenn sich etwa die thüringische AfD gegen „religiös motivierte Bekleidungsregelungen, das ‚kulturell sensible‘ Weglassen von Speisen in öffentlichen Einrichtungen“ oder „die Diffamierung unserer Gesellschaft als ‚unrein‘“ (durch Muslime) wendet, fällt es schwer, darin etwas anderes zu sehen, als die Verteidigung eines Gemeinwesens und der darin bis heute geltenden Regeln, Sitten und Üblichkeiten. So schnell können sich offenbar die Zeiten ändern, und was gestern ein X war, sei heute ein U.

Es bleibt dabei: Die beanstandeten Sätze aus den AfD-Parteiprogrammen und den Äußerungen ihrer Vertreter sind oft eher Realitätsbeschreibungen, die man so im politischen Raum vornehmen kann, auch wenn es vielen missfällt. Dem Bericht fehlt es an Logik, wie sich an vielen Stellen zeigen lässt. So wird behauptet, dass die Aussage „Mohammed ist Berlins beliebtester Vorname“ nichts mit einer Islamisierung zu tun haben könne. Denn es sei ja nur eine „relative“ Häufigkeit und belege keine „Majorisierung“. Davon war aber auch nicht die Rede. Das Gutachten widerlegt also nur seine eigenen Annahmen.

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