Tichys Einblick
VG Berlin muss entscheiden

Straßenverkehr und Vollverschleierung: Hält das Verbot?

Der Kulturkampf um den Niqab scheint in vollem Gange. Von Dänemark bis Sri Lanka ist er schlicht verboten, aus Gründen des Zusammenlebens und der öffentlichen Sicherheit. Hierzulande will man nur im Straßenverkehr nichts davon wissen – weil sonst kommunale Einnahmen wegbrechen könnten.

IMAGO / Depositphotos

Am Mittwoch dieser Woche hätte es eigentlich zur mündlichen Verhandlung am Verwaltungsgericht Berlin kommen sollen. Doch der Termin, an dem auch ein Urteil erwartet wurde, wurde kurzfristig auf den 27. Januar verlegt. Nun heißt es also noch zwei Wochen abwarten, bis Deutschland Gewissheit hat, ob es einen gerichtlich abgesicherten Weg gibt, die lästigen Polizeiblitzer ein für allemal auszutricksen.

In einer Klage gegen das Land Berlin geht es um den Niqab am Steuer. Eine Muslimin will sich das Recht erstreiten, mit Niqab Auto fahren zu dürfen. Bisher mauert die zuständige Straßenverkehrsbehörde, beruft sich auf das Verhüllungsverbot im Straßenverkehr. Ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster aus dem Sommer war knapp ausgegangen, hatte aber ergeben, dass „Autofahrer bei automatisierten Verkehrskontrollen erkennbar sein“ müssen.

Durch einen Niqab werden nicht nur Körper und Haare bedeckt, sondern auch das Gesicht, bis auf zwei schmale Schlitze für die Augen. Boris Johnson hatte sich einst über diese „wandelnden Briefkästen“ lustig gemacht und natürlich einen Sturm der Entrüstung im multireligiösen Britannien geerntet. In seinem humoristischen Beitrag wurde aber durchaus auch Johnsons eigene Verunsicherung angesichts dieser Neuerung in europäischen Städten deutlich. Gesetzlich sollte er sich als Tory-Führer und Premier nicht mehr mit diesem Thema befassen. Auch in Deutschland blieb das bisher aus.

Bis heute darf es als zutiefst verunsichernd gelten, wenn eine Person – es geht zumeist um Frauen – zwar vor die Tür geht und sich im öffentlichen Raum bewegt, aber ihr Gesicht nicht zeigen will. Der Vorgang ist aber durchaus dekuvrierend, entlarvend im besten Sinne, denn im selben Moment ist das soziale Verhältnis zwischen dieser Frau und ihrem Mann, der unverschleiert neben ihr einherschreiten kann, vollkommen klar geworden. Viele werden sich (dennoch oder eben deswegen) einen abschätzigen oder erschrockenen Blick nicht verkneifen können. Es ist eine sehr schwierige Übung im menschlichen Miteinander. Denn natürlich möchte man niemanden entmenschlichen, schon gar nicht die Frau im Stoffgefängnis. Aber hat sie das nicht schon selbst getan, aus freien Stücken oder gegen ihren Willen?

Gericht nahm den Niqab in Augenschein

Das sind so Fragen, die sich stellen. Aber das Berliner Verwaltungsgericht wird sie nicht behandeln. Denn die „nonverbale Kommunikation“, die sich gewöhnlich über den Gesichtsausdruck vermittelt, ist aus gerichtlicher Sicht kein schützenswertes Gut, zumindest nicht im Straßenverkehr. Das hat das OVG Münster für Nordrhein-Westfalen in einem Urteil vom 5. Juli 2024 festgestellt. Denn durch nonverbale Kommunikation könne es durchaus auch zu Missverständnissen im Straßenverkehr kommen – sie ist also nicht wasserdicht. Außerdem sei sie auf größere Entfernung und bei Dunkelheit „gänzlich unmöglich“. „Der Topos der nonverbalen Kommunikation als unverzichtbare Voraussetzung eines gesellschaftlichen Zusammenlebens“, wie das Rechtsportal LTO mit einiger Distanz schreibt, wird in der Entscheidung des VG Berlin also wohl keine Rolle spielen.

Auch ein weiteres Hindernis konnte das OVG NRW aus dem Weg räumen. Dazu bedurfte es nur einer „Inaugenscheinnahme“ des Niqab. So loriotesk, wie dieses Wort ist, geht es auch weiter im Bericht:

„Der Senat des OVG [NRW] hat sich den Schleier für diese Feststellung einmal genauer angesehen und kam zu dem Ergebnis, dass der Schleier die Augen der Fahrerin nicht verdeckt. […] ‚Der Schleier wird durch eine Schleife am Hinterkopf befestigt, die ein Verrutschen grundsätzlich verhindert‘,beobachtet der Senat des OVG im Rahmen seiner Inaugenscheinnahme. Das gewährleiste auch die Durchführung von ‚verkehrstypischen Manövern‘ wie dem Schulterblick.“

Der „Schleier mit Schleife“ hat alle Chancen, zu einem festen Topos in der deutschen Straßenverkehrsordnung zu werden. Auch im Grenzverkehr stellt der Niqab laut Einschätzung deutscher Gerichte kein ernsthaftes Hindernis dar. Befasste Polizisten können die „zur Feststellung der Identität erforderlichen Maßnahmen treffen“. Das geht aber nach Auskunft von Muslimen nur durch eine weibliche Beamtin und auch dann wohl nicht immer problemlos. Aber na gut, es gibt keine Hindernisse, sagt das OVG NRW.

Wenig überrascht da auch der Erfindungsreichtum der Klägerinnen und ihrer Anwälte. Denn es gibt – bisher – nur ein hartes Argument gegen die Erteilung der Erlaubnis zum Tragen des „Schleiers mit Schleife“ im Straßenverkehr, und das ist eben die Wiedererkennbarkeit der Fahrerin bei Verkehrskontrollen mit Kamera und Blitz. Hier warfen die Anwälte den Vorschlag eines Fahrtenbuchs in den Raum, das doch auch dienlich sein könne, um Verkehrsverstöße und Geschwindigkeitsübertretungen im Nachhinein nachzuweisen. Aber hier stimmte das Münsteraner OVG dann doch nicht zu, und dem schloss sich das OVG Rheinland-Pfalz in Koblenz an.

Terroristen im Niqab? Alles schon dagewesen

In Frankreich ist der Gesichtsschleier schon seit 2010 im gesamten öffentlichen Raum verboten. Gleiches gilt in Belgien, Dänemark, Bulgarien und seit 2017 in Österreich, daneben sogar in Tadschikistan und Usbekistan, Sri Lanka (seit den Bombenanschlägen von Ostern 2019) und in der Schweiz (seit 2021), in Kamerun, der Republik Kongo und auch im Tschad, wo Terroristen von Boko Haram mehrere Selbstmordanschläge im Niqab begingen. Andere Länder wie die Türkei, Algerien, Tunesien und Norwegen haben Niqab und Burka in öffentlichen Gebäuden verboten. Auf der anderen Seite ist der Niqab selbst in den meisten überwiegend islamischen Ländern nicht Teil der Pflichten von Frauen unter der Scharia – etwa in Pakistan, wo Frauen neben dem Gesicht auch ihre Hände und Füße unbedeckt lassen dürfen.

Jüngst machte auf X ein Video die Runde, in dem zwei freundliche Austro-Polizisten das Verbot einem zugereisten Paar erklärten und darauf bestanden, dass der Gesichtsschleier, der zum Niqab der Frau gehörte, umgehend, an Ort und Stelle entfernt werden musste. Laut dem Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz dürfen „an öffentlichen Orten und in öffentlichen Gebäuden die Gesichtszüge nicht durch Kleidung oder andere Gegenstände in einer Weise verhüllt bzw. verborgen werden, dass sie nicht mehr erkennbar sind“.

 

 

Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) finden solche Regelungen bisher Gnade. Allerdings zählte auch vor dem EGMR nicht etwa der hehre Wert der Gleichheit der Geschlechter. Das scheint dann doch etwas zu hoch gegriffen für das Straßburger Menschenrechts-Gericht. Wohl aber zählen wiederum gewisse Belange der öffentlichen Sicherheit sowie die Sichtbarkeit des Gesichts und der Mimik als „Mindestanforderung für das gesellschaftliche Zusammenleben“. Auf Französisch heißt das „vivre ensemble“ und scheint dort wichtig zu sein. Und noch einmal ausführlicher zitiert (wiederum nach LTO):

„Es sei nachvollziehbar, dass Personen im öffentlichen Raum nicht mit Lebensweisen konfrontiert werden wollen, die die ‚Möglichkeit einer offenen zwischenmenschlichen Beziehung‘ ablehnten oder grundsätzlich in Frage stellten. Schließlich sei ein offener Umgang miteinander ein ‚unverzichtbares Element gemeinschaftlichen Zusammenlebens‘. Der Niqab sei jedoch eine ‚Barriere‘, die einen solchen Umgang von vornherein verhindere.“

Neutralitätsklauseln werden zu Fall gebracht

Die Aktualität des breiteren Themas aus juristischer Sicht zeigt daneben ein weiterer LTO-Artikel zum „Neutralitätsgebot im Arbeitsvertrag“, das offenbar als nächstes geschleift werden soll, um einen Stoffstück zum Sieg zu verhelfen. Hier geht es darum, ob Arbeitgeber darauf bestehen dürfen, dass ihre Angestellten auf das Kopftuch im Dienst verzichten. Und tatsächlich werden solche Neutralitätsklauseln gerade auf dem Weg über die Gerichte zu Fall gebracht, was schon ein Eingriff in die Rechte der Arbeitgeber darstellt. Es muss schon „konkrete Störungen“ geben, um ein betriebliches Kopftuchverbot durchzusetzen. Ob der Niqab im Straßenverkehr die kommunale Einnahmenstruktur mittels Blitzern „konkret“ und nachhaltig „stört“, das muss das VG Berlin am 27. Januar entscheiden.

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