Im Bundestag haben sich die Grünen gegen ein Aufweichen der Schuldenbremse ausgesprochen. Damit hätte diese geplante Änderung der Verfassung nicht die notwendige Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen. Die Grünen attackieren den mutmaßlich nächsten Kanzler Friedrich Merz (CDU) scharf, werfen ihm Wortbruch, stilloses Verhalten und fehlende Zuverlässigkeit vor. Doch entscheidend ist die Abstimmung in zweiter und dritter Lesung. Diese ist für den nächsten Dienstag geplant. Bis dahin will sich Merz die Grünen kaufen. Sein erstes Angebot: 50 Milliarden Euro Steuergeld für den Klimaschutz.
Das wird nicht reichen, sagen die Grünen. Merz fehle die Zustimmung ihrer Partei, sagt Britta Haßelmann. Eine der beiden grünen Fraktionsvorsitzenden: „Das ist durch den heutigen Tag nicht besser geworden.“ Zuerst habe Merz ihr Angebote auf die Mailbox gesprochen, nun überrumpele er sie im Plenum des Bundestags mit dem nächsten Vorschlag: eben die 50 Milliarden Euro, die der mögliche nächste Kanzler in die „Sondervermögen“ genannte Neuverschuldung von rund 500 Milliarden Euro aufnehmen will. Sie sollen in den Klima- und Transformationsfonds fließen, den bisher der Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) verwaltet. Sein Vorgehen sei respektlos und zeige die Überforderung, die Merz nach der Wahl mit den Aufgaben eines Kanzlers zeige.
In diesem Punkt ist sich Haßelmann mit Alice Weidel einig. Um Merz zu schmähen, vollzieht deren Fraktionsvorsitzende eine Zeitenwende innerhalb der AfD: Sie gibt der ehemaligen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) recht. Die habe gewusst, dass Merz als Kanzler verhindert werden müsste. Weidel empfiehlt Merz, dieses Amt aufzugeben: „Sie können es nicht.“ Mit dem von ihm verantworteten Aufweichen der Schuldenbremse würde die deutsche Staatsverschuldung auf 85 Prozent des Bruttoinlandsproduktes steigen. Das würde die deutsche Kreditwürdigkeit gefährden und in der Folge zu höheren Preisen, Mieten und Hypothekenzinsen führen. Das alles für ein „woke-linkes Ideal“. Versprochen habe Merz das Gegenteil. Damit habe er „Wahlbetrug“ begangen. Hinzu käme ein „Angriff auf die Demokratie“, weil der CDU-Spitzenkandidat die neuen Schulden mit dem alten Bundestag durchpeitschen will.
Die Kritik Weidels ähnelt inhaltlich nicht nur der von Haßelmann, sondern auch der von Christian Lindner. Der FDP-Chef darf noch im Bundestag reden, eben weil Merz keine Woche auf die neue Zusammensetzung warten will. Dank der die AfD mehr als doppelt so stark sein wird wie bisher. Wie Weidel kritisiert auch Lindner den Wortbruch des möglichen neuen Kanzlers: „Die Menschen haben Merz gewählt und Esken bekommen.“ Auch wirft Lindner wie Weidel Merz eine linke Politik vor, mit der er die „fiskalische Resilienz“ gefährde, also die Solidität deutscher Finanzen. Diesen Schritt verteidige Merz damit, die neuen Schulden würden die deutsche Verteidigungsfähigkeit garantieren. Doch zu dieser Fähigkeit gehörten eben auch solide Finanzen, erklärt Lindner.
Haben AfD und FDP recht, wenn sie Merz linke Wirtschaftspolitik vorwerfen? Er selbst sagt, es gehe bei dem rund eine Billion Euro schweren Schuldenpaket nicht nur darum, die Verteidigungsfähigkeit zu erhalten – oder zu erreichen. Es ginge auch darum, die deutsche Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Die Investitionen von rund 500 Milliarden Euro allein durch das „Sondervermögen“ sollen das bewirken: Staatsverschuldung, Staatsinvestitionen und in der Folge erhöhte Steuern, um Zinsen und Schulden zu bezahlen. Damit verabschiedet sich der CDU-Chef nicht nur von der Wirtschaftspolitik Ludwig Erhards. Sondern auch von der Realität:
Rund 500 Milliarden Euro Schulden hat die Ampel in den jüngsten drei Jahren aufgenommen, um sie aus diversen Paketen wie dem „Doppelwumms“ oder den „Entlastungspaketen“ wieder auszuschütten. Das hat die deutsche Wirtschaft 2023 nicht zum Laufen gebracht – sondern zum Schrumpfen. Genauso wie 2024. Für das laufende Jahr rechnen die Handelskammern mit einem weiteren Schrumpfen von 0,5 Prozent. Diese Politik will Merz fortsetzen und beschleunigen. Weidel nennt das eine „Kapitulationsurkunde vor grün-sozialistischen Begehrlichkeiten“. Lindner fragt: „Wer sind Sie und was haben Sie mit Friedrich Merz gemacht?“ Auch die Linken verhöhnen Merz. Der habe schon keinen Wendehals mehr, sondern allmählich einen gedrechselten Hals, sagt Christian Görke.
Wie geht es weiter? Das Angebot von 50 Milliarden Euro haben die Grünen so öffentlich ausgeschlagen, wie Merz es gemacht hat. Er muss bis Dienstag nachlegen. Mehr Geld dürfte ihm am wenigsten schwerfallen. Wer schon eine Billion Euro Schulden macht, für den haben weitere 50 oder 150 Milliarden Euro zusätzliches Steuergeld auch keinen Wert mehr. Doch das wird immer noch nicht reichen, wie Katharina Dröge, die andere Fraktionsvorsitzende der Grünen andeutet: „Sie machen Klimaschutz zum Privatproblem der Grünen.“ Was bedeutet, dass sich die Öko-Partei nicht allein auf das Öko-Thema festlegen lassen will.
Einen Punkt, den die Grünen fordern, macht Haßelmann öffentlich: Nicht sie sollen dem Antrag von Union und SPD zustimmen. Sondern die „große Koalition“ soll mit dem Antrag der Grünen gehen. In dem ist kein Schuldenpaket für Investitionen in die „Infrastruktur“ vorgesehen. Dafür wären alle Ausgaben für die Verteidigung erlaubt, die 1,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes überschreiten. Die Verteidigung würde danach aber so neu definiert, dass alles Mögliche darunterfalle. Sogar staatliches Geld für „Nichtregierungsorganisationen“.
Ein anderer Punkt ist ebenfalls noch möglich, den die Grünen allerdings nicht offen benennen. Auch sie wollen eine Woche vor dem Antritt des neuen Bundestages noch ein Lieblingsprojekt durch den alten Bundestag peitschen: die Erleichterung von Abtreibungen. Bisher stellt sich die Union dagegen. Die Grünen könnten es nun zur Bedingung für das Aufweichen der Schuldenbremse machen. Stimmt die CDU den erleichterten Abtreibungen zu, wäre das ein Bruch mit all ihren Traditionen. Es wäre ein unseriöser Kuhhandel. Ein würdeloser Kniefall vor grün-linker Politik. Mit anderen Worten all das, wofür Friedrich Merz steht.
Doch selbst wenn Merz sich die Stimmen der Grünen für den Dienstag erkauft, sind seine Probleme noch nicht gelöst. Nach der Sitzung des Bundestages begannen SPD und Union mit den eigentlichen Koalitionsverhandlungen. Ohne das Schuldengeld aus dem „Sondervermögen“ würde Sozial- und Christdemokraten das einzige Werkzeug genommen, auf das sie sich einigen können – nämlich der Versuch, alle Probleme mit Geld zuschütten zu wollen. Angesichts von Themen wie Begrenzung der illegalen Einwanderung, Abschaffung des Bürgergelds oder politische Festlegung des Mindestlohns und damit Eingriff in die Tarifautonomie sind diese Verhandlungen auch so schon kompliziert genug.
Selbst wenn das noch klappt, droht Merz weiterer Ärger. AfD und Linke klagen gegen das Vorgehen der „großen Koalition“, die massive Neuverschuldung durch das abgewählte Parlament peitschen zu wollen. Unter dem Vorwand, dass etwa der miserable Zustand von Straßen und Brücken nicht vorhersehbar gewesen und daher jetzt dringlich sei. Das Bündnis Sahra Wagenknecht klagt gar auf eine neue Auszählung der Wahl, weil es im Zusammenhang mit der Partei (wieder einmal) zu Unstimmigkeiten in der Auszählung gekommen ist. Da wartet also weiterer Zündstoff auf die Pläne von Friedrich Merz, der zehnte Kanzler der Bundesrepublik zu werden. Genauso explosiv sind die vielen Ungeschicklichkeiten des Sauerländers. Eine Entscheidung fällt spätestens am Dienstag, weitere stehen weiter offen. Danach braucht der Antrag auch noch eine Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen in der Länderkammer Bundesrat.