Tichys Einblick
Entscheidung im Bundestag

Die SPD demütigt Friedrich Merz offen – folgt damit aber dem Weg der FDP

Die SPD hat sich zwar in den Sondierungen auf ganzer Linie gegen Friedrich Merz durchgesetzt. Auch können die Genossen die Union nach Belieben demütigen. Doch damit haben sie einen Weg gewählt, den zuletzt die FDP gegangen ist.

picture alliance/dpa | Kay Nietfeld

Wilhelm von Ockham hat die Idee der höchstmöglichen Sparsamkeit entwickelt. Gibt es demnach mehrere mögliche Erklärungen für einen Sachverhalt, soll der Forscher erstmal die einfachste verfolgen. Ein aktuelles Beispiel wäre ein Papier, in dem die SPD ihre Gedanken zu den Sondierungen mit der Union niederschreibt und das dann in der Stern-Redaktion landet. Eine durchaus mögliche Theorie wäre, dass sich ein Stern-Mitarbeiter aufwendig in die SPD-Rechner gehackt, das Papier abgegriffen und journalistisch ausgewertet hat. Doch nach Ockham sollte man eher davon ausgehen, dass die Sozialdemokraten der Redaktion den Text überlassen haben, damit diese den Inhalt verbreitet.

Behält Ockham recht, dann war das kein kollegialer Zug der SPD, Interna öffentlich zu machen. Etwa, dass ihr Verhandlungsführer Boris Pistorius seine Gegenüber von der Union mit Schmähworten belegt. Dass er damit prahlt, alle Ideen von CDU und CSU aus dem gemeinsamen Papier „rausgekegelt“ zu haben. Oder dass die Asylwende, mit der sich die Union nun brüstet, nichts als ein „Placebo“ sei, weil es praktisch keinen Unterschied mache, ob das Wort „Begrenzung“ als Staatsziel im Gesetz vorkomme oder nicht. Es ist nun nicht so, dass die Journalisten, die noch genau auf das Berliner Treiben schauen und die Parteien durchschauen wollen, das alles nicht von allein erkannt hätten. Aber es ist doch immer noch etwas anderes, so etwas aus der Feder des Verteidigungsministers zu lesen – und sei es über den Umweg der Stern-Redaktion.

Nach dem Koalitionsbruch am 6. November und nach der Wahl am 23. Februar haben die Sozialdemokraten öffentlich eingesehen, dass die Ampel an ihrem permanent offenen Streit gescheitert sei – und dass die nächste Regierung das besser machen müsse. Doch Einsicht ist für Sozialdemokraten immer nur ein Mittel, um über die drei kritischen Tage nach einer berechtigten Rücktrittsforderung zu kommen. Sitzen sie wieder oben, ist jede Reflexion vergessen – oder gar Selbstkritik oder das ernsthafte Vorhaben, am eigenen Verhalten wirklich etwas ändern zu wollen. Die „große Koalition“ ist schon so verkracht wie die Ampel am Vorabend des 6. Novembers.

Um 12,1 Prozentpunkte hat die Union am 23. Februar die Sozialdemokraten geschlagen. Olaf Scholz ist damit der zweite Kanzler, den die Deutschen aus dem Amt gewählt haben. Aber noch keinen mit einem annähernd so schlechten Ergebnis. Das sind die Sozialdemokraten nicht bereit zu verzeihen und lassen dies die Union auch spüren. Etwa mit Verleumdungen, die sie – zumindest nach Ockham – wohl über den Stern lanciert haben. Menschen mit notorischem Bluthochdruck mögen für solche Rachefeldzüge Verständnis haben. Doch die lösen keine Probleme. In der Regel schaffen sie neue.

Wobei die Ausgangslage – auch für die SPD – kompliziert genug ist: Mit ihrer Politik hat sie in 23 der letzten 27 Jahren den Haushalt ruiniert und Deutschland um seinen finanziellen Spielraum gebracht. Zwar konnten die Genossen CDU und CSU von einem Politikwechsel abhalten. „Wir haben sie nicht eine Sekunde in unseren Vorgarten gelassen“, formuliert es Pistorius. Doch um die sozialdemokratische Politik fortsetzen zu können, muss der Staat sich ungebremst verschulden. Damit er das wiederum darf, brauchen Union und SPD eine Änderung des Grundgesetzes – und damit praktisch auch die Stimmen der Grünen. Die SPD hat die Union derart gedemütigt, dass die Grünen nun an dem Spaß teilhaben wollen – und Bedingungen für ihre Stimmen stellen.

In der Frage der Militärpolitik ist das einfach: Union und SPD haben sich darauf geeinigt, dass Ausgaben für die Verteidigung aus den Regeln der Schuldenbremse genommen werden, wenn sie 1 Prozent des Bruttoinlandproduktes überschreiten. Die Grünen setzen zwar diese Grenzen auf 1,5 Prozent hoch, definieren aber die Verteidigung so neu, dass darunter alle möglichen Ausgaben fallen. Auch die für „Nichtregierungsorganisationen“. Unterm Strich bedeutet dieser Vorschlag der Grünen keinen Unterschied. Ein „Placebo“ würden es Pistorius und der Stern nennen.

Doch das „Sondervermögen“ von 500 Milliarden Euro für die „Infrastruktur“ stellen die Grünen ebenfalls in Frage. Durch dieses Schuldenloch will die SPD all ihre Konsumausgaben zwängen. Angeblich geht es da um Straßen, Schienen oder Internetverbindungen – aber ist die Verfassung erst einmal geändert, passt da genauso gut der ganze andere Ausbau des Staates durch, für den die Sozialdemokraten inhaltlich stehen. An dieser Stelle wenden sich die Grünen nun also zum ersten Mal gegen ihren amtierenden Koalitionspartner, der sie wiederum mit 4,8 Prozentpunkten in der Wahl geschlagen hat. Nicht nur Sozialdemokraten können schlecht verlieren. Bis Dienstag, wenn die Verfassungsänderung in zweiter und dritter Lesung – also final – durch den Bundestag geht, wird die SPD den Grünen daher entgegenkommen müssen. Im für sie schlimmsten Fall stirbt dann das neue „Sondervermögen“ von 500 Milliarden Euro – immerhin zweieinhalb Doppelwummse. Doch wahrscheinlicher ist, dass die Grünen einfach etwas für den Klimaschutz raushandeln werden. Die öffentlichen Spekulationen reichen bis zu einer Billion Euro – wobei es so viel kaum werden wird.

In der Welt des Bundestages muss die SPD nur die CDU über den Tisch ziehen und die Grünen davon überzeugen, gegebenenfalls noch die Linken. Dann können sie grenzenlos Staatsschulden für einen grenzenlosen Staat machen. Einfach. Nur in der richtigen Welt gibt es eine kompliziertere Aufgabe – die Realität. Die bedeutet: Es wird nicht funktionieren, alle Probleme mit Geld zuschütten zu wollen. Egal, mit wie viel. So lange Deutschland seine überbordende Bürokratie nicht in den Griff bekommt und die Wirtschaft auch von anderen Fesseln befreit, etwa den hohen Steuern, Abgaben und Energiepreisen. Das sagen unter anderem die Handels- und die Handwerkskammern und seit neuestem eine Expertenrunde, zu der auch Peer Steinbrück gehört. Kanzlerkandidat der SPD von 2013, dessen Ergebnis der Partei heute wie die gute alte Zeit vorkommt. Doch auf solche Experten hören Sozialdemokraten nur an den drei kritischen Tagen nach einer berechtigten Rücktrittsforderung. Ansonsten machen sie einfach weiter.

Etwa mit der Asylwende. Die Union braucht diese, um ihre Wähler bei der Stange zu halten. Auch sozialdemokratische Landräte und Bürgermeister sagen, dass die Zustände in Asylheimen, Kitas, Schulen oder auf dem Wohnungsmarkt kaum noch tragbar sind. Trotzdem machen die Sozialdemokraten weiter mit der Politik der unbegrenzten Zuwanderung. Pistorius, indem er indirekt jede Änderung daran als „Placebo“ verspottet und aus dem „Vorgarten“ der SPD hält. Innenministerin Nancy Faeser, indem sie weiterhin Afghanen mit zweifelhafter Identität einfliegen lässt, Millionen Kosten dabei verursacht und klar macht, dass die CDU-Forderungen nur dann umgesetzt werden, wenn die EU-Partner nun dem zustimmen, was sie bisher permanent abgelehnt haben – und laut österreichischer Regierung auch weiter ablehnen wollen. Die Ampel ist am 6. November gestorben. Ihr Geist herrscht weiter in Berlin.

Also regieren die Sozialdemokraten weiter gegen die Realität an. Und sie tun das in einer Koalition, die auf offenen Streit aufgebaut ist. Obwohl das nicht trägt, wie die Ampel in nur drei Jahren bewiesen hat. Doch wenn die Sozialdemokraten schon nicht auf ihre letzten Wirtschaftsexperten hören, dann doch auf den deutschen Fußball-Philosophen Rolf Rüssmann: „Wenn wir hier schon nicht gewinnen können, dann treten wir ihnen wenigstens den Rasen kaputt.“ Also demütigen sie weiter in Friedrich Merz den Mann, den sie irgendwann nach Ostern oder Pfingsten zu ihrem Kanzler wählen. Wie die FDP in den letzten Jahren setzt die SPD auf die Strategie, von den Annehmlichkeiten einer Regierungsbeteiligung profitieren zu wollen, aber sich dann öffentlich durch Distanz zu eben dieser Regierung profilieren zu wollen. Das ist zwar bei der FDP krachend gescheitert. Das muss jeder Logik nach scheitern. Doch vielleicht klappt es diesmal, irgendwie, hoffen die Sozialdemokraten. Folgt man Ockhams Prinzip der höchstmöglichen Sparsamkeit, muss man davon ausgehen, dass die Genossen Ockhams Prinzip der höchstmöglichen Sparsamkeit nicht kennen – oder verstanden haben.

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