Tichys Einblick
Geleakter BKA-Bericht

Attentäter von Magdeburg schrieb Drohbriefe an Kanzleramt und Innenministerium

Ein vertraulicher BKA-Bericht informiert über die juristische Vorgeschichte des Täters von Magdeburg, und die ist sehr lang. Derweil machen die Ermittlungen kaum Fortschritte. Opfer und Hinterbliebene werden mit dem Terror alleine gelassen. Denn genau der soll aus der Öffentlichkeit möglichst herausgehalten werden.

picture alliance / Eibner-Pressefoto | Jonas Lohrmann

Warum konnte Taleb Abdulmohsen trotz vielfältiger Drohungen – gegen eine Ärztekammer, gegen Richter, Kanzleramt, den saudischen Botschafter, das Bundesinnenministerium – und noch mehr Auffälligkeiten ein fast unbehelligtes Leben in Deutschland führen? Wie kam er zu seiner Stelle als Facharzt für Psychiatrie, wie konnte er seine Arbeit (seit 2020) trotz der zahllosen „Aussetzer“ fortführen? Die Rätsel um den Attentäter von Magdeburg nehmen eher zu als ab, wenn man sich in seine Vorgeschichte versenkt; die Fragen, die sich Opfer, Angehörige und die Öffentlichkeit angesichts des Anschlags stellen, sind zahlreich.

Mit diesen Fragen beschäftigte sich am Donnerstag auch der Innenausschuss des Bundestags in einer nichtöffentlichen Sitzung. Unter anderem war auch Nancy Faeser geladen, der die Opposition inzwischen mangelnde Aufklärung über die Ermittlungen im Fall Taleb als-Abdulmohsen vorwirft.

Lage der Nation
Magdeburg offenbart das totale Staatsversagen
Aufsehen erregte ein Dokument, das das BKA für die Ausschussitzung zusammengestellt hatte. Eigentlich ist es „nur für den Dienstgebrauch“ bestimmt. Der Spiegel veröffentlichte jedoch die Liste von Vorgängen rund um den Attentäter, die vor allem aus Drohungen und der Äußerung von Wahnvorstellungen besteht. Daraus geht hervor, dass der Täter ganze 105 Mal aktenkundig war: Die problematische Persönlichkeit des späteren Täters wird darin in jedem Fall deutlich – nicht weniger aber die Dysfunktionalität des deutschen Staates bis in seinen Spitzen hinauf. Insgesamt 14 Ermittlungsverfahren wurden gegen Abdulmohsen eröffnet und meist ohne Folgen wieder eingestellt. Nur zweimal wurde er verurteilt

Die Liste beginnt im April 2013, als es zum Streit zwischen Abdulmohsen und der Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern kam. Anlass war die Frage, ob der Saudi die notwendigen Voraussetzungen für seine Zulassung zur Facharztprüfung erfüllte. Er drohte damals – elf Jahre vor seiner Tat – mit einem Terroranschlag, wie man ihn in jenem Jahr auf dem Marathon in Boston gesehen hatte: „So was passiert dann hier auch“. Aber eine Geldstrafe von 900 Euro musste genügen, verhängt von einem Rostocker Gericht. Es bleibt dabei: Abdulmohsen versuchte, sich die Zulassung zur Facharztprüfung mit reichlich fachfremden Drohungen zu erpressen.

Die Kriminalpolizei regte schon damals an, Abdulmohsen auf eine psychische Erkrankung zu untersuchen. Aber nichts geschah. Hier stellt sich auch die Frage, ob das Standesbewusstsein von Ärzten eine gründliche Untersuchung des Standesgenossen verhinderte. Letztlich hätte ein Gericht den Beschluss fassen und Abdulmohsen genauso behandeln müssen wie einen Deutschen, der dieselben Dinge tut und sagt. Am Ende bleibt der Eindruck, dass hier aus irgendeinem Grunde mit zweierlei Maß gemessen wurde.

Stattdessen wurde Abdulmohsen 2020 in Bernburg als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie angestellt, mit der Aufgabe, drogensüchtige Straftäter zu kurieren. Dabei riet er auch schon einmal zum Alkoholkonsum, musste aber bei Diagnosen und Verschreibungen immer zuerst das Internet befragen – ein Ausweis von Fachkunde war das wohl kaum. Man nannte ihn „Doktor Google“.

Drohender Brief ans Kanzleramt – Ermittlungen eingestellt

Im Januar 2014 begann der Saudi dann auch einen Streit mit seiner eigenen Botschaft. Der saudische Botschafter warnte das Bundesamt für Verfassungsschutz wegen Rachedrohungen Abdulmohsens, dem zuvor ein Stipendium seines Herkunftslandes entzogen worden war. Abdulmohsen habe angekündigt, er wolle „eine Armee gründen und das saudi-arabische Volk von der Königsfamilie befreien“. Auch das BKA erfuhr davon.

Doch noch höhere Stellen im Staate wurden von Abdulmohsen mit Drohungen und Injurien bedacht: Im September 2015 wandte er sich an das Bundeskanzleramt in Berlin, in dem damals bekanntlich Angela Merkel saß. Was Merkel im Spätsommer 2015 getan hat, dürfte hinlänglich bekannt sein. Sie sprach zum Beispiel im Bundestag von „Rechtsstaatlichkeit, Toleranz und Solidarität“, die in Europa allgemein gelten würden. „Flüchtlinge müssten die Bereitschaft mitbringen, Regeln und Werte zu respektieren, die das Grundgesetz vorgibt“, heißt es in der Inhaltsangabe zu ihrer Bundestagsrede, aber das scheint ein Nebensatz ohne tiefere Bedeutung gewesen zu sein. In derselben Debatte sagte der Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter: „Scheitern wir an einer humanen Flüchtlingspolitik, dann scheitert Europa.“ Im Fall Abdulmohsen ist eher das Gegenteil bewiesen.

Im September 2015 drohte Abdulmohsen in einem Schreiben ans Kanzleramt, sich eine Pistole zu kaufen und zwei Rostocker Richter zu erschießen. Das war offenbar „business as usual“ für das Kanzleramt. Daneben verlangte der Saudi eine Änderung des Grundgesetzes, denn das sei „ausländerfeindlich“. Es kam zu Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Stralsund, die bald wieder eingestellt wurden.

Februar 2023: „Muss man denn erst 20 Leute umbringen?“

Wenig später beantragte Abdulmohsen politisches Asyl und wurde vom Bamf anerkannt. Angeblich drohte ihm als abtrünnigem Ex-Moslem in Saudi-Arabien die Todesstrafe. Ein Abgleich mit Abdulmohsens deutschem Tatenregister – unter anderem Drohungen gegen eine Ärztekammer und gegen Richter, adressiert an das Bundeskanzleramt – schien im Bamf nicht vorgesehen zu sein. Auch die Tatsache, dass der Saudi eigentlich einen Umsturz des Königreichs – also der verfassungsmäßigen Ordnung in seiner Heimat – vorhatte, solches zumindest angedroht hatte, spielte offenbar keine Rolle im Asylverfahren. Es relativierte nicht seine angebliche Verfolgung.

Im Februar 2023 wandte sich Abdulmohsen dann wiederum direkt an die Bundesregierung, diesmal ans Bundesinnenministerium, mit einer neuen, überdeutlichen Androhung eines Terroranschlags auf Deutsche. Abulmohsens genaue Worte waren: „Muss man in Deutschland 20 Leute auf den Straßen von Berlin umbringen, um die Gerechtigkeit zu bekommen?“ Spätestens als der Saudi diese Worte in ein Kontaktformular des Innenministeriums tippte und auf Absenden klickte, hätten deutsche Behörden, hätte auch das von Nancy Faeser geleitete Innenministerium handeln müssen, um seine Bürger zu schützen. Aber nichts geschah. Bundesinnenministerin Faeser brachte derweil den „zweiten Flüchtlingsgipfel“ mit Kommunen und Ländern hinter sich und sorgte mittels Bundes-Geldspritze dafür, dass die Aufnahme-Maschinerie nicht nachließ.

Und heute ist Faeser bekanntlich der Meinung, dass Deutschland „nach wie vor eines der sichersten Länder, obwohl diese furchtbaren Vorfälle passiert sind, wie jetzt kürzlich, kurz vor Weihnachten, in Magdeburg, wo sechs Menschen ihr Leben verloren haben“. Doch für Faeser leben wir in Deutschland dennoch „noch auf einem relativ hohen Sicherheitsniveau“.

Doch die kriegerisch anmutenden Drohungen Abdulmohsens nahmen kein Ende. Im Dezember 2023 schrieb er auf seinem X-Profil: Deutschland werde „einen Preis, einen sehr hohen Preis zu zahlen“ haben. Er werde schon bald Rache üben, „auch wenn es mich mein Leben kostet“. Ein Ermittlungsverfahren wurde eröffnet – das elfte gegen ihn in Deutschland –, aber die Staatsanwaltschaft Magdeburg stellte das Verfahren ein, obwohl auch das Profilbild Abdulmohsens inzwischen ein Gewehr zeigte, das in Verbindung mit diesen Zeilen Anlass zu gewisser Sorge hätte geben müssen.

Derweil wurde die Polizei wegen der privaten Drohungen Abdulmohsens tätig: Am 4. Oktober 2024 besuchten ihn die Beamten an seinem Arbeitsplatz im Maßregelvollzug Bernburg. Abdulmohsen hatte zuvor seinen eigenen Anwalt bedroht. Galt solch ein Verhalten schlichtweg als ortsangepasst? Erregte es keine weiteren Bedenken, dass ein Psychiater selbst Zeichen einer psychischen Erkrankung zeigte, sich bald manisch oder depressiv, vielleicht auch schizoid benahm, vor allem deutliche Züge von Verfolgungswahn aufwies?

Faeser versagt Abgeordneten Klarheit über Ermittlungen

Seit 2020 hatte Abdulmohsen vermehrt eigene Strafanzeigen gestellt, vor allem gegen die „Säkulare Flüchtlingshilfe“ in Köln, die Ex-Muslimen wie Abdulmohsen die Einreise nach Deutschland erleichtert. Den Mitarbeitern der „Flüchtlingshilfe“ warf er – durchaus begründet und mit Videomaterial belegt – die sexuelle Belästigung von Migrantinnen vor. Daneben glaubte er, dass die „korrupte Organisation“ ihn im Auftrag des saudischen Geheimdienstes ausspionierte. Hier verfließen Wahn und politische Agitation.

Ein Fazit dieser Vorgeschichte einer blutigen, in sechs Fällen tödlich endenden Terror-Attacke lässt sich nur so ziehen: Der Punkt, an dem deutsche Behörden entschieden tätig werden, war anscheinend zu keinem Zeitpunkt überschritten. Der deutsche Staat ist geduldig und agiert selten mit dem Fallbeil. Ausnahmen soll es geben – man denke an die jüngsten Auseinandersetzungen mit Bürgern um die Meinungsfreiheit im Netz oder die Freiheit, Anti-Corona-Maßnahmen-Demonstrationen zu veranstalten. In solchen Fällen kommt es auch zu Festnahmen im Morgengrauen und monatelanger, grundloser Untersuchungshaft. Aber diese Ausnahmen betrafen nicht Abdulmohsen. Zwischen Oktober und seiner fatalen Tat im Dezember 2024 gab es noch einmal fünf neue Einträge in der Liste, kurz vor der Tat wurde er in Abwesenheit zu einer Geldstrafe von 600 Euro verurteilt, wegen des Missbrauchs von Notrufen. Aber auch diese Vorladung konnte den wahnhaften, immer wieder äußerst entschieden handelnden Täter nicht beeindrucken. Im Gegenteil dürfte sie ihn bei der Planung der Tat bestärkt haben. Denn auch diese Strafverfolgung passte ja letztlich perfekt in seinen Verfolgungswahn und seine Verschwörungstheorien hinein, mit denen er sein Aufnahmeland bedachte.

Man darf nun gespannt sein, ob es der Politik gelingt, Transparenz in dieser Sache herzustellen – eine Transparenz, welche die zuständige Bundesministerin Nancy Faeser (SPD) seit Weihnachten versprochen hat. Doch die Union behauptet, die Ministerin halte die Ausschussmitglieder über die Ermittlungen im Unklaren. Auch SPD-Innenpolitiker Sebastian Hartmann zeigte sich nach der Sitzung ungehalten: „Wesentliche Punkte konnten nicht aufgeklärt werden. Ich bin unzufrieden.“

Wo Deutschland sich einer EU-Richtlinie verweigert

Doch nicht nur in Sachen Aufarbeitung, die freilich noch ganz am Anfang steht, bleibt Faeser zögerlich. Sie hätte längst die Antiterrorrichtlinie der EU von 2017 umsetzen können, in der beispielsweise auch Opferrechte ausbuchstabiert werden und der gemäß es wohl kaum zu dem Fall der Eltern des ums Leben gekommenen neunjährigen André hätte kommen können, dessen Eltern tagelang auf Zugang zu ihrem Sohn warten mussten.

Die Richtlinie verpflichtet auch Deutschland zu einer umfassenden Unterstützung aller Terroropfer – medizinisch, sozial, psychologisch, finanziell, und all das so lange wie nötig. Nun macht auch das die Toten nicht wieder lebendig und das Land nicht wieder sicher. Aber den Opfern des alltäglichen Terrors würde damit wohl eine Stimme gegeben. Allein das könnte Grund genug für das Scholz-Kabinett gewesen sein, diese Richtlinie nicht mit der Kneifzange anzufassen und in diesem Fall lieber ein Vertragsverletzungsverfahren zu riskieren. Denn was die Terrorrichtlinie der EU vor allem klarmacht: Die europäischen Länder werden heute mehr denn je von dieser Geißel bedroht, so dass umfassender Terrorschutz immer dringender zu werden scheint. Auch die Berliner Polizei hat einen solchen Aktionsplan „SafeCi – Safer Space for Safer Cities“ übernommen und (wohl folgenlos) auf Englisch ins Netz gestellt.

Doch der Anschlag von Magdeburg gilt ja nicht einmal offiziell als Terroranschlag – auch wenn die Opfer genauso entschädigt werden sollen, wie Justizminister Volker Wissing (parteilos) nun sagte. Die Doppelzüngigkeit kennt auch hier offenbar keine Grenzen mehr. Alles gehorcht einer Maßgabe: den Terror möglichst wenig zum Thema zu machen.

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