Tichys Einblick
„unsere Demokratie"

Der Skandal, wenn nicht herauskommt, was Linke wollen

Die Reaktion von Grünen und SPD auf die geplatzte Verfassungsrichter-Wahl zeigt: Dieses Milieu akzeptiert Wahlen und Abstimmungen nur dann, wenn sie die gewünschten Ergebnisse liefern. Darin liegt der Sinn der Wendung „unsere Demokratie".

Fraktionen Die Linke, SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag, Berlin, 25.3.2025

picture alliance / PIC ONE | Christian Ender

Glaubt man den hocherregten Wortmeldungen von Politikern der Grünen und der SPD, dann erlebt die Republik gerade einen Skandal von gigantischem Ausmaß. Die Fraktionschefin der Grünen Britta Haßelmann machte ein „Desaster“ aus, das Parlament und Bundesverfassungsgericht ihrer Meinung nach schwer beschädigt. SPD-Fraktionschef Matthias Miersch beklagt eine „bewusste Demontage“ des höchsten deutschen Gerichts und „demokratischer Institutionen“. Ganz ähnlich äußerte sich auch die zweite und dritte Reihe der beiden Parteien. Dort sieht man – wieder einmal – die Demokratie wanken. Haßelmann rief ins Bundestagsplenum: „Frauen der Republik, wehrt euch.“ Wogegen?

In der letzten Woche meldeten sich eine Reihe von Unionsabgeordneten bei Fraktionschef Jens Spahn, um ihm mitzuteilen, dass sie die Verfassungsrichterin-Kandidatin der SPD Frauke Brosius-Gersdorf nicht wählen würden. Da die Wahl von Bundesverfassungsrichtern eine Zweidrittelmehrheit erfordert, sagten Union und SPD die für Donnerstag geplante Kür ab. Die Ungeheuerlichkeit aus Sicht von Grünen und SPD besteht also darin, dass Unionsabgeordnete von der Freiheit ihres Mandats Gebrauch machten, als sie ihre Ablehnung von Brosius-Gersdorf signalisierten.

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Damit verhielten sie sich übrigens fair: Sie hätten ihre Ansicht auch für sich behalten und die Juraprofessorin einfach durchfallen lassen können. Da es sich um eine geheime Wahl handelt, weiß hinterher niemand, wie die einzelnen Parlamentarier abstimmten. Die grüne Fraktionsvorsitzende pochte in ihrer Wutrede darauf, der Richterwahlausschuss hätte sich für die drei Kandidaten ausgesprochen, Brosius-Gersdorf, Ann-Katrin Kaufhold und den CDU-Vorschlag Günter Spinner. Den eigentlichen Wahlakt im Bundestag hält Haßelmann offenbar für eine bloße Formsache, bei der Unionsabgeordnete nur mit Ja stimmen dürfen.

Für die Ablehnung von Brosius-Gersdorf lieferte die Professorin selbst gleich mehrere Gründe. Sie spricht sich beispielsweise für „Parität“ aus, also für eine gesetzliche Regelung, die Parteien vorschreibt, bei ihrer Kandidatenaufstellung für Parlamentswahlen eine Frauenquote von mindestens 50 Prozent einzuhalten. Bisher beurteilten zwei Landesverfassungsgerichte – Brandenburg und Thüringen – entsprechende Gesetzesvorlagen als klar verfassungswidrig. Auf Bundesebene sähe das nicht anders aus.

In einer Talkshow nur wenige Tage vor der terminierten Richterwahl im Bundestag erklärte Brosius-Gersdorf außerdem freimütig, ein Verbot der AfD wäre ein „ganz starkes Signal“, auch wenn das die Anhänger der Partei nicht „beseitigen“ könnte. Die Juristin würde im Fall ihrer Wahl dem 2. Senat in Karlsruhe angehören, der, sollte es einen entsprechenden Antrag geben, über ein AfD-Verbot urteilen müsste. Dass sich ein Verfassungsgerichtskandidat oder -Kandidatin derart parteiisch zu einer Sache äußert, die demnächst auf dem Richtertisch landen könnte, gab es bisher noch nie. Spätestens an diesem Punkt hätte die SPD gut daran getan, der haltungs- und mitteilungsfreudigen Bewerberin den Rückzug nahezulegen.

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Den Ausschlag gab dann allerdings ihre schon etwas ältere Position zum ungeborenen Leben: „Ob dem Embryo und später Fötus der Schutz der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes zukommt, das ist in der Tat in der Verfassungsrechtswissenschaft sehr umstritten. Meines Erachtens gibt es gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt“, heißt es in einem von ihr verfassten Text. Artikel 1 Grundgesetz beschränkt die Menschenwürde, die der Staat zu achten hat, allerdings nicht auf das schon geborene Leben. Und das Bundesverfassungsgericht stellte sowohl in seiner Entscheidung von 1975 als auch von 1993 eindeutig fest, dass sich die Schutzwirkung von Artikel 1 auch auf den heranwachsenden Menschen im Mutterleib bezieht. Genau deshalb gibt es die spezielle Rechtskonstruktion, dass die Abtreibung auch innerhalb der Fristenregelung rechtswidrig, wenn auch straffrei bleibt.

Einer Wissenschaftlerin steht es frei, sich mit ihrer Rechtsmeinung frontal gegen das Bundesverfassungsgericht zu stellen. Nur gehört sie dann eben nicht nach Karlsruhe. Die Unionsabgeordneten, die Brosius-Gersdorf nicht wählen wollen, können sich also in erster Linie auf das Grundgesetz und die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts berufen – und erst an zweiter Stelle darauf, dass sich dessen Entscheidungen auch mit der (bisherigen) Meinung der Unionsparteien decken. Dass der Kanzler und CDU-Chef Friedrich Merz diese Position mit seinem ‚Ja‘ auf die Frage, ob er die SPD-Kandidatin wählen würde, neuerdings in Frage stellte, bindet nicht die einzelnen Abgeordneten, die hier eine Gewissensfrage eben anders beantworten.

Mit ihrer mehrfach wiederholten Wendung, Spahn habe seine Fraktion „nicht im Griff“, zeigen die Grünen, was sie vom freien Abgeordnetenmandat halten: nichts, falls Parlamentarier es benutzen, um anders zu entscheiden, als die linken Fraktionen es erwarten. Es fällt auf, dass bisher niemand bei Grünen und SPD auf die sachlichen Gründe der Ablehnung eingeht. Eine Verfassungsrichterin in spe, die sich in einem zentralen Punkt gegen Verfassung und Rechtsprechung stellt – offenbar kein Problem für das Linkslager. Abgeordnete, die hier eine rote Linie sehen – ein Skandal. Und nicht nur das: Die Grünen-Vorsitzende Franziska Brantner erklärte im Anklagemodus, es könne nicht sein, dass eine Richterkandidatin „wie Freiwild durch die Manege“ geführt werde. Abgesehen von der wirren Diktion – Freiwild läuft nicht durch eine Manege – hält Brantner es also für empörend, dass überhaupt eine öffentliche Diskussion über Verfassungsgerichtsbewerber stattfindet, wozu es auch gehört, dass Leute nachlesen, wozu und wie sie sich in der Vergangenheit äußerten.

Offenbar sieht das ideale demokratische Prozedere für sie, Haßelmann, Miersch und andere so aus, dass ein kleiner Kreis die Personalien entscheidet, Abgeordnete das Ergebnis gefälligst abnicken, und die Öffentlichkeit kommentarlos zur Kenntnis nimmt, wer demnächst für 12 Jahre in Karlsruhe Recht spricht. Dass die Grünen Anfang 2025 dem von der CDU für das Verfassungsgericht vorgeschlagenen Richter am Bundesverwaltungsgericht Robert Seegmüller schon im Vorfeld die Zustimmung begründungslos verweigerten, halten die Haßelmanns und Dröges andererseits für ihr selbstverständliches Vorrecht.

In diesen Tagen zeigt sich ein altbekanntes Phänomen, nur eben in einer besonderen Schärfe: das Problem der Linken mit demokratischen Vorgängen und Institutionen. Sie akzeptieren beide im Grunde nur dann, wenn sie die gewünschten Ergebnisse produzieren. In früheren Jahren zeigten sich die Grünen sehr angetan von dem Instrument der Volksabstimmung. Als dann eine ganze Reihe von Plebisziten nicht so ausgingen wie gewünscht – beispielsweise in Hamburg zur gegliederten Schulform, in Dresden zum Bau der von den Grünen bekämpften Waldschlößchenbrücke –, erlosch die Liebe der Partei zur direkten Demokratie ziemlich schnell. Stattdessen begeistern sich Grüne, SPD und Linkspartei heute für intransparent ausgeloste „Bürgerräte“, die unter Aufsicht einseitig zusammengestellter Experten zu vorgegebenen Themen beraten und wundersamerweise am Ende so ziemlich genau das beschließen, was schon in den linken Parteiprogrammen steht. Gibt es die passende Mehrheit im Parlament nicht, so lautet das dahinterstehende Motto, schaffen wir uns eben Pseudoparlamente – von keinem gewählt, und genau deshalb sehr zuverlässig.

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Bei diesen kleinen Eingriffen und Nachhilfen soll es nicht bleiben, wenn es nach den Vorstellungen des paternalistischen Politikertypus geht, der dem Bürger grundsätzlich misstraut. Da die Bundestagswahl und die Wahlen in mehreren Bundesländern nicht so ausgingen wie von Grünen und SPD gewünscht, soll ein bestimmtes politisches Angebot am besten verschwinden – nämlich die größte Oppositionspartei des Landes. Die Unterstützung für diese Idee reicht bis weit in die Union. Besonders Vertreter linker Kräfte teilen den Wählern anderer Länder auch gern ungefragt mit, wie sie abstimmen sollten, und ermahnen sie streng, wenn sie sich wie bei der Präsidentschaftswahl in Polen nicht daran halten. Im gleichen politischen Lager spricht man mittlerweile kaum noch einfach von Demokratie, sondern „unserer Demokratie“. Das besitzanzeigende Fürwort weist auf den Unterschied hin: In „unserer Demokratie“ geht es nicht mehr um die Ermittlungen von Mehrheiten, sondern die Durchsetzung des objektiv Richtigen und deshalb Alternativlosen.

Nicht nur in Deutschland findet das linke Lager Gefallen an der Idee, über politisierte Höchstgerichte zu erreichen, wofür sich an der Urne keine Mehrheiten finden. Am weitesten geht diese Entwicklung derzeit in Brasilien. Aber auch im EU-Land Rumänien griff das Verfassungsgericht bekanntlich tief in die Präsidentschaftswahl ein.

Die zweite Richterinnenkandidatin der SPD Ann-Katrin Kaufhold erklärte vor einiger Zeit, Verfassungsgerichte könnten und sollten „unpopuläre Maßnahmen anordnen“, beispielsweise zur Reduzierung von CO2. Kaufholds Begründung: Gerichte müssten schließlich nicht auf Wählermehrheiten achten.

An der vorerst geplatzten Richterwahl gibt es drei positive Aspekte. Erstens zeigt sich in aller Deutlichkeit und weit über diesen Fall hinaus, wie sehr der Respekt der Linken für Abstimmungen davon abhängt, ob sie ihren Willen bekommen. Zweitens fällt es jetzt einer größeren Öffentlichkeit auf, was „Politisierung der Justiz“ konkret bedeutet. Und drittens dürften sich deshalb in Zukunft mehr Bürger als bisher für die Wahl von Verfassungsrichtern interessieren.

Das wäre ein Gewinn für die Demokratie – und zwar für die Originalversion ohne sprachliche Zusätze.


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