Unsere bürgerliche Gesellschaft ist einem Zangenangriff auf die Normalität ausgesetzt – einmal durch die »Wokeness« der Kulturrevolutionäre und zum anderen durch den Alarmismus der politisch-medialen Elite.
Die Wokeness stellt das Verhältnis von normal und pathologisch auf den Kopf. Der Alarmismus stellt das Verhältnis von normal und extrem auf den Kopf. Wokeness ist das letzte Asyl der geistig obdachlosen Linken. Sie ist einerseits durch eine Hypersensibilität und andererseits durch eine Hypermoralität gekennzeichnet. Wenn man sich um eine Erklärung dieses eigenartigen, in der ganzen westlichen Welt verbreiteten Phänomens bemüht, kommt man zu dem Ergebnis: Wir leben in der anstrengendsten Kultur aller Zeiten. Und das überfordert und frustriert sehr viele Menschen. Deshalb beherrschen die Barbaren, nämlich die »postkolonialistischen« Taliban des Westens, und die Mimosen der Wokeness die Öffentlichkeit. (…)
Betrachten wir zunächst die woke Normalisierung des Pathologischen. Das, was früher als Neurose betrachtet wurde – zum Beispiel Hysterie, Zwangsneurose oder Verfolgungswahn –, soll jetzt als selbstbestimmter Lebensentwurf anerkannt werden. Indem sie eine statistische Normalität des moralisch Abnormen behauptet, errichtet die Wokeness ein Tabu über die Unterscheidung von normal und abnormal. Die woken Normalisierungen des Pathologischen zeigen längst auch eine aggressive politische Seite, nämlich in Form einer Reeducation der weißen, heterosexuellen Männer. Sie sollen »queer« denken lernen, und das heißt letztlich, die Unterscheidung von Mann und Frau durch ein Kontinuum unendlich vieler Geschlechter zu ersetzen. Das bedeutet, dass nun alles akzeptiert wird – nur nicht die bürgerliche Normalität.
So ist ein kulturelles Klima absoluter Toleranz entstanden, das sich aber als absolute Intoleranz gegenüber den traditionellen Lebensformen, vor allem gegenüber den traditionellen Geschlechterrollen, äußert. Damit wird der Normalität der Krieg erklärt. Normal und pathologisch tauschen die Plätze. Als krank gilt jetzt derjenige, der etwas für normal, also für natürlich gegeben hält – wie etwa die Tatsache, dass jemand ein Mann oder eine Frau ist. Das funktioniert aber nur deshalb, weil den meisten normalen Menschen der Mut fehlt, die lautstarken Verrückten verrückt zu nennen. Sie haben nämlich Angst, als »rechtsextrem« zu gelten.
Genauso pervertiert ist das Verhältnis von Normalität und Ausnahmezustand in der Welt von Medien und Politik. (…) Die unbestreitbare Tatsache, dass es das Unerwartete, also schwarze Schwäne gibt, hat die politisch-mediale Elite zu einer Katastropheninflation gesteigert. Und in der Angst vor der Katastrophe treffen sich die Neurose der Woken und das Extrem der Alarmisten. Ein noch vergleichsweise harmloses Beispiel sind die (…) »Wetterextreme«. So lautete die Wettervorhersage von wetter.com für April 2024: »Von extrem warm zu extrem normal«.
Spätestens jetzt wird der geneigte Leser fragen, was Normalität denn sei. Eine Definition ist schwierig, aber es gibt eine gut erkennbare Begriffsfamilie, die sich um den Begriff der Normalität gruppiert: Gewohnheit, Institution, Selbstverständlichkeit, Üblichkeit, Erwartung, Tradition, Vorurteil, Vertrauen, Erfahrung, Bürgerlichkeit. Normal ist, was sich von selbst versteht und nicht erst ausgehandelt oder gerechtfertigt werden muss. Normalität ist wie Gesundheit – man bemerkt sie nicht, wenn sie statt hat. Und sie ist genauso schwer zu definieren, eigentlich nur durch die Verneinung ihrer Verneinungen; nicht pathologisch, keine Ausnahme, nicht exzessiv, nicht abnorm. Normalität ist die größte zivilisatorische Errungenschaft. (…)
Ein normaler Mensch weiß, wer er ist, und muss sich nicht auf die Suche nach seiner Identität begeben. Normalität ist der Standard, der definiert, wie viel Variabilität in den Lebensformen akzeptabel ist. Normal ist nicht das Optimale, sondern das, was gut genug, also zufriedenstellend ist. Politisch ist das die Position des Konservativen. Und der heute so beliebte »Kampf gegen rechts« ist in Wahrheit ein Kampf gegen den Glauben an die Normalität, den man Konservativismus nennt. (…)
Die Krise der Normalität ist so alt wie die Moderne; doch heute hat sie eine perverse Form angenommen. Die Moderne wurde erst radikalisiert und nannte sich dann Postmoderne. In den letzten Jahrzehnten aber wurde sie pervertiert und nannte sich dann Wokeness. (…)
Ein radikaler Bruch mit dem 19. Jahrhundert hatte sich in der Kunst schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts abgezeichnet. So konstatiert der Sozialphilosoph und Kulturanthropologe Arnold Gehlen in seinem bedeutenden Werk »Zeit-Bilder«: »Während der Jahre 1905 bis 1910 hat man die künstlerischen Überlieferungen von 600 Jahren zerrissen und abgestreift, wie es scheint, für immer.« Was diesen radikalen Zeitbruch aber für alle Menschen zum einschneidenden Erlebnis machte, war das Trauma der Weltkriege. Gehlen meint zurecht, dass man die beiden Weltkriege »als einen einzigen Vorgang von dreißigjähriger Dauer sehen muss, und von diesem Vorgang müssen wir annehmen, dass er nie Vergangenheit, nie wirklich überlebt und überstanden werden wird. Sondern er hat sich unauslöschlich in das Bewusstsein der Menschen eingebrannt«. In die Alltagsroutinen jedes Einzelnen brachen Weltkrieg, Inflation und große Depression wie Naturkatastrophen ein.
Im Ersten Weltkrieg zerbrach der Stolz auf unsere europäische Kultur. Die kulturellen Sublimierungen bekamen Risse, und jeder erfuhr am eigenen Leib, dass Nietzsche recht hatte mit seinem Satz, Kultur sei nur das dünne Apfelhäutchen über glühendem Chaos. Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg war die bürgerliche Welt noch in Ordnung. Diese Zeit vor dem Ersten Weltkrieg war die letzte, in der es noch generationenübergreifende Erfahrungszusammenhänge gab. Mit dem Ersten Weltkrieg endete die Zeit des ungebrochenen, selbstbewussten Bürgertums.
Der Verlust der Normalität hat also ein Datum: der Erste Weltkrieg. Er entwertete alle Erfahrungen. Die Basis der Gewissheiten brach zusammen, und man musste nun »leben, als ob nichts mehr selbstverständlich wäre; wer die Selbstverständlichkeit verloren hat, ist dazu verurteilt, sein Leben zu improvisieren«, so der Sozialpsychologe Manès Sperber in seinen Lebenserinnerungen. Der Philosoph Georg Simmel erlebte den Kriegsausbruch wie einen Weltuntergang und bemerkte, »dass das Deutschland, in dem wir geworden sind, was wir sind, versunken ist wie ein ausgeträumter Traum«. (…)
Uns bleibt die Hoffnung, dass nach der politischen Generation der Weltverbesserer wieder eine skeptische Generation kommt, die mit dem woken Spuk aufräumt. Das ist die Hoffnung auf eine Rückkehr aus den moralischen Exzessen und dem nihilistischen Selbstzweifel des Westens zur moralischen Normalität, die sich von selbst versteht.
Normalität ist eine Frage der Distanz, und zwar der richtigen Entfernung zur Wirklichkeit. Gerade dabei helfen uns weder die Medien noch die Wissenschaft. Denn die Wissenschaft arbeitet im Medium der Abstraktion – und deshalb bleibt sie unserer Lebenswirklichkeit zu fern; man spricht ja dann gerne vom »Elfenbeinturm«. Und die Medien arbeiten im Medium der Emotion – und damit sind sie unserer Lebenswirklichkeit zu nah; sie rücken uns buchstäblich auf den Leib. Nur durch die richtige Distanz kann man aber beurteilen, was wirklich wichtig ist. Die Medienwirklichkeit zwingt uns ständig zum Meinen und Urteilen, während Skepsis ja die Zurückhaltung des Urteils meint.
Die richtige Entfernung der Normalität erreicht man geistig durch Skepsis und seelisch durch Humor. Im Gegensatz zu allen Formen der Unterwerfung unter den Zeitgeist ist die skeptische Haltung charakterisiert durch Unverführbarkeit und Verblüffungsfestigkeit. Sie verfällt nicht dem Größenwahn des Absoluten und Prinzipiellen, sondern sorgt für Ernüchterung. Diese Haltung führt aber weder zu einem heillosen Relativismus, noch zu einer Nostalgie nach dem Absoluten, sondern zu einer skeptischen Philosophie der Endlichkeit. Dazu hat Thomas Mann eine gute Begriffsfamilie gebildet: »Freiheit, Gerechtigkeit, Behutsamkeit, Wissen, Güte und Form.« Und über den Zusammenhang von Skepsis und Bürgerlichkeit schreibt er einmal: »Der Zweifel steht am Ausgange des kulturell geschlossenen und geborgenen, autoritär christlichen Mittelalters; er steht am Eingange der Neuen Zeit, der Zeit der Aufklärung, die ein humanes Ideal, den anti-fanatischen und duldsamen, aber auch nicht mehr geistig geborgenen und gebundenen, sondern gelösten und individualistisch vereinzelten Menschen konzipierte. Dieser lockere, tolerante, zweiflerische und vereinzelte Mensch ist der Bürger«.
In der skeptischen Generation, die sich nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges herausbildete, hat der Soziologe Helmut Schelsky die Träger einer neuen Normalität des Alltags erkannt: »Diese Generation ist in ihrem sozialen Bewusstsein und Selbstbewusstsein kritischer, skeptischer, misstrauischer, glaubens- oder wenigstens illusionsloser als alle Jugendgenerationen vorher, sie ist tolerant, wenn man die Voraussetzung und Hinnahme eigener und fremder Schwächen als Toleranz bezeichnen will, sie ist ohne Pathos, Programme und Parolen. Diese geistige Ernüchterung macht frei zu einer für die Jugend ungewöhnlichen Lebenstüchtigkeit. Die Generation ist im privaten und sozialen Verhalten angepasster, wirklichkeitsnäher, zugriffsbereiter und erfolgssicherer als je eine Jugend vorher. Sie meistert das Leben in der Banalität, in der es sich dem Menschen stellt, und ist darauf stolz.« (…)
Der Endlichkeit und Vergänglichkeit verdankt das Leben seine Intensität. Alles wird nämlich durch Knappheit wertvoll – auch die eigene Lebenszeit. Es gibt also ein natürliches Maß, eben die Endlichkeit des eigenen Lebens. Daran bemisst sich, was wirklich wichtig ist. Man kann Kinder, Enkel und Urenkel haben – das ist die konkrete Grenze der Endlichkeit. Aber die Solidarität in der Zeit kann weit zurückreichen – in der Pietät gegenüber Eltern und Großeltern, aber auch in der geistigen Verbundenheit der Bildung mit Jerusalem, Athen und Rom. Zwischen dem zu Großen der Astronomie und dem zu Kleinen der Atomistik fand Sokrates das Maß des Menschen auf dem Marktplatz. In unserer Lebenswelt bleiben wir alle Ptolemäer.
Das Maß, das uns fehlt, ist das Augenmaß. Es ist konservativ und, wie Arnold Gehlen einmal so schön gesagt hat, »der einfachste Intelligenztest«. Eine prominente Stelle nimmt der Begriff in der Soziologie Max Webers ein. In seinem berühmten Vortrag über Politik als Beruf definiert er Augenmaß als »Fähigkeit, die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen« – und das bedeutet: Distanz zu den Dingen und Menschen, aber auch Distanz sich selbst gegenüber. Man könnte das Augenmaß auch einen durch Lebenserfahrung erarbeiteten gesunden Menschenverstand nennen. Entsprechend kann man Wokeness als eine Virusinfektion des gesunden Menschenverstandes definieren. Der derart erkrankte Menschenverstand ist dann immun gegen die Erfahrungen der Normalität unserer Alltagswelt. Denn nur Erfahrungen machen Erwartungen realistisch; und zwar die Erfahrungen des Einzelnen. Denn man muss dem eigenen gesunden Menschenverstand vertrauen, gerade um ihn dann im Detail in Frage stellen zu können. Dazu gehört mehr als alles andere der Mut zur Normalität.
Gekürzter Auszug aus:
Norbert Bolz, Zurück zur Normalität. Mit Augenmaß und gesundem Menschenverstand. LMV, Hardcover mit Schutzumschlag, 256 Seiten, 24,00 €