Es mutet an wie ein Drehbuch für den nächsten Balkan-Konflikt: Das Bundesgericht der von Spannungen zerrütteten, multiethnischen Konföderation Bosnien-Herzegowina hat den Präsidenten der bosnisch-serbischen Teilrepublik „Republika Srpska“, Milorad Dodik, zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Darüber hinaus darf er sechs Jahre lang keine staatlichen Funktionen wahrnehmen. Er müsste jetzt also verhaftet, und Neuwahlen müssten ausgeschrieben werden.
Dodik erklärte daraufhin: „Bosnien-Herzegowina existiert nicht mehr.“ Er drohte Christian Schmidt, dem deutschen „Hohen Repräsentanten“ der Staatengemeinschaft, de facto der Regent Bosniens, mit Festnahme und Ausweisung, sollte er sich im serbischen Landesteil sehen lassen.
In Belgrad tagte derweil am Mittwoch der serbische Nationale Sicherheitsrat, im Anschluss daran flog der serbische Präsident Aleksandr Vučić noch am Abend nach Banja Luka, in die Hauptstadt der Republika Srpska, um Dodik seine Unterstützung zu versichern. Dodik telefonierte auch mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, der sich danach ebenfalls öffentlich auf dessen Seite stellte. Dodik erklärte vielsagend (ohne gefragt worden zu sein), derzeit befänden sich 300 Angehörige der ungarischen Anti-Terroreinheit TEK im Land, um mit bosnisch-serbischen Einheiten zu „trainieren“. EUFOR, das 1100 Soldaten zählende internationale Truppenkontigent in Bosnien, erklärte, man habe „genügend Kräfte“ um jeder Eventualität zu begegnen.
Was ist passiert? Was kann passieren?
In einem Satz: Bosnien wird seit dem Ende des dortigen Krieges 1995 von der „Staatengemeinschaft“ regiert. Rechtliche Grundlage ist das Abkommen von Dayton vom Dezember 1995. Diese Struktur droht jetzt endgültig zu zerbrechen, mit unabsehbaren Folgen.
Dem Vertrag entsprechend wurden die drei verfeindeten Volksgruppen und die von ihnen bewohnten Landesteile in autonome Verwaltungseinheiten aufgeteilt: Bosnien und Herzegowina, mehrheitlich bewohnt von Muslimen (Bosniaken) und Kroaten, wurden zusammengefügt zu einer „Föderation“ von zehn Kantonen mit jeweils fast vollkommener Autonomie. Die Bundesregierung kann den Kantonen wenig vorschreiben. Jeder Kanton hat seine eigene Regierung, Polizei, Bildungssytem, und eigene Steuern.
Die Republika Srpska ist hingegen von der politischen Struktur her hochgradig zentralisiert. Sie lässt sich von der bosnischen Föderation nicht hineinregieren.
Um dieses merkwürdige Konstrukt irgendwie zusammenzuhalten, wurde es „Konföderation“ genannt, wobei die Entscheidungsgewalt auf gesamtbosnischer Ebene den Einheimischen lieber nicht anvertraut wurde. Stattdessen gibt es einen Hohen Repräsentanten der Staatengemeinschaft, der mit erheblichen Machtbefugnissen ausgestattet ist.
Gegenwärtig ist es der deutsche CSU-Mann Christian Schmidt. Laut Dayton-Vertrag wird der Hohe Repräsentant ernannt vom Lenkungsausschuss des sogenannten internationalen Friedensimplementierungsrates und hat die Macht, sämtliche demokratischen Einrichtungen des Landes zu überstimmen. Er kann Gesetze stornieren, Dekrete erlassen, und gewählte Politiker ihres Amtes entheben. Christian Schmidt benutzt diese Vollmachten auch: 2022 änderte er das Wahlrecht. Rückwirkend, nachdem die Stimmen abgegeben waren.
In den letzten Jahren stornierte er mehrere Gesetze der bosnischen Serbenrepublik, und weil diese seine Befehle missachtete, kam es zum Prozess gegen Dodik und zu dem Schuldspruch, der jetzt die Lunte an das Pulverfass Balkan legen könnte.
Dodik und seine Regierung haben sich schon seit Schmidts Ernennung konsequent geweigert, dessen Entscheidungen auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Begründung: Seine Ernennung sei „illegitim“, weil sie nicht vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bestätigt wurde, obwohl das – laut Dodik – im Annex 10 des Daytoner Vertrags vorgesehen ist.
Das ist aber Interpretationssache, da der Text von Annex 10 nur besagt, dass die Ernennung „im Einklang mit den relevanten UN-Resolutionen“ erfolgen muss. In der Praxis hat der UN-Sicherheitsrat die Ernennung immer gebilligt, mit einer Ausnahme – die von Christian Schwarz-Schilling (2006 bis 2007). Er blieb aber sowieso nicht lange genug, als dass daraus eine tiefere politische Kontroverse hätte entstehen können.
Anders verhält es sich mit Schmidt. Seine Ernennung 2021 wurde nicht vom UN-Sicherheitsrat bestätigt, weil Russland und China sich ausdrücklich dagegen wandten. Das ist insofern beachtlich, als Russland an den Friedensgesprächen 1995 teilnahm, die zum Vertrag führten. Jetzt scheint sich Russland von Dayton abzuwenden.
Formaljuristisch ist die Frage von Schmidts Ernennung tatsächlich Interpretationssache, und da trifft es sich gut, dass laut Artikel V von Annex 10 der Höchste Repräsentant selbst die „finale Autorität“ ist, die über die Interpretation des Daytoner Vertrages entscheidet. Ob also seine Ernennung legitim ist, entscheidet Schmidt selbst.
Nebenbemerkung: Die AfD hat übrigens im Bundestag bei der deutschen Regierung angefragt, wie sie denn die Ernennung Schmidts und seine Handlungen interpretiert: legitim oder illegitim?
Schmidt darf noch etwas anderes interpretieren: bis wann die Staatengemeinschaft Bosnien regieren soll. Laut Daytoner Vertrag regiert der Höchste Repräsentant so lange, bis durch freie Wahlen eine stabile Ordnung entsteht, und Bosnien nicht mehr von außen zusammengehalten werden muss. Aber „freie und faire“ Wahlen fanden 2022 statt, ohne dass danach die erhebliche Macht des Repräsentanten eingeschränkt worden wäre. Was ist eine stabile Ordnung? Interpretationssache.
Die gegenteilige Interpretation der bosnischen Serben sowie die Blockade-Haltung Russlands und Chinas lassen darauf schließen, dass sich diese Länder darauf geeinigt haben, die dysfunktionale Nachkriegsordnung von Dayton unter Druck zu setzen.
Seit 2021 boykottiert Dodik Schmidts Entscheidungen, und trifft selbst – beziehungsweise das Parlament in Banja Luka – Entscheidungen, die dem Geist von Dayton zuwiderlaufen und auf eine Abspaltung der Republika Srpska von Bosnien zielen. Diese Entscheidungen wurden jeweils von Schmidt für ungültig erklärt. Zuletzt am 1. Februar, als er einen Beschluss des bosnisch-serbischen Parlaments für nichtig erklärte, der sich gegen ihn selbst wandte: Darin wurde darauf verwiesen, dass das Justizsystem der EU nicht akzeptiert, dass ungewählte Ausländer anstelle demokratisch gewählter Institutionen Gesetze verabschieden. Mit anderen Worten: Die Extistenz des Hohen Repräsentanten stehe in Widerspruch zum EU-Grundwert der Rechtsstaatlichkeit.
Objektiv scheint es, dass Russland, China und Serbien die westliche Vormachtstellung in Bosnien erschüttern wollen. Es sind Russland und China, die im UN-Sicherheitsrat ihre Haltung geändert haben. Der Gegendruck Schmidts und der Staatengemeinschaft, der zu dem jetzigen Gerichtsurteil führte, bedeutet, dass „der Westen“ seine Machtpositionen in der Region behaupten will.
Wie geht es weiter? Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig – letztinstanzlich wird spätestens Ende des Jahres entschieden. Bis dahin dürfte zumindest kein Blut fließen, und heftig verhandelt werden zwischen allen politischen Akteuren. Vučić deutete dies in Banja Luka an, als er „Dialog zwischen allen Beteiligten“ und „Frieden“ forderte. Das sei eine der Schlussfolgerungen, zu denen der nationale Sicherheitsrat in Belgrad gekommen sei.
Vučić erwähnte aber auch drei Maßnahmen, die man im Fall der Fälle ergreifen werde. Die wolle er aber jetzt „nicht nennen“.
Dodik verdoppelt derweil den Einsatz: Er hat „neue Gesetze“ angekündigt, darunter eines, welches jegliche Aktivität bosnisch-herzegowinischer Gerichte und Staatsanwälte auf dem Gebiet der Serbenrepublik untersagt.
Eines ist sicher: Um Dodik von der Macht zu trennen, wird man zu Gewalt greifen müssen, ihn also gegen den Widerstand seiner Sicherheitskräfte verhaften müssen. Wer soll das tun? Die internationale Friedenstruppe EUFOR ist nicht zuständig. Es gibt eine bosnische-herzegowinische Polizei, aber die wird nicht ohne weiteres im Serbengebiet handeln können.
Der Hohe Repräsentant selbst hat keine Befehlsgewalt über EUFOR. Handelt aber am Ende niemand, dann ist das ein weiterer Schritt zu einer Spaltung des Landes. Es würde bedeuten, dass die Strukturen und Institutionen des Daytoner Vertrages vollkommen irrelevant geworden sind.