Tichys Einblick
Machtwechsel mit Folgen in Polen

Donald Tusk wegen „versuchten Staatsstreichs“ angeklagt

Donald Tusk steht wegen „versuchten Staatsstreichs“ vor Gericht. Die Vorwürfe reichen von Machtmissbrauch über Verfassungsbrüche bis hin zu politischer Verfolgung der Opposition. Doch ist die Anklage echte Justiz oder nur ein symbolischer Akt?

IMAGO / newspix

Donald Tusk wurde gerade wegen „versuchten Staatsstreichs“ angeklagt. Wie konnte es dazu kommen? Es dürfte den meisten Zuhörern bekannt sein, dass die vorherige, konservativ-christliche Regierung unter massivem Druck seitens der Europäischen Union stand. Durch eine Kombination aus juristischen Verfahren, negativer Medienberichterstattung und finanziellen Sanktionen wurde ihre Beliebtheit bei der Wählerschaft systematisch geschwächt, bis dieser Druck Ende 2023 schließlich zum erwünschten Regierungswechsel führte: Die PiS blieb zwar stärkste Partei, an ihre Stelle trat aber eine heterogene Regierungskoalition unter der Führung von Donald Tusk – ein Machtwechsel, der in Brüssel natürlich als Rückkehr zu den „europäischen Werten“ gefeiert wurde.

Weniger bekannt ist jedoch, mit welcher Geschwindigkeit die neue Regierung bereits in den ersten Monaten ihrer Amtszeit eklatanteste Verstöße gegen die polnische Verfassung beging – in einem Ausmaß, das die Vorwürfe gegen ihre Vorgängerregierung in den vergangenen acht Jahren weit übertrifft. Anstatt demokratische Strukturen zu stärken und auf Versöhnung und Dialog zu setzen, setzte die neue Führung gezielt darauf, alle Schlüsselpositionen systematisch unter ihre Kontrolle zu bringen – wenn nötig mit direkter physischer Gewalt. Doch während die konservative Opposition zunächst weitgehend mit Fassungslosigkeit reagierte, scheint sie sich nun wieder etwas gefangen zu haben und zu einer strukturierten Gegenoffensive überzugehen – gerade noch rechtzeitig angesichts der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen.

Worum geht es also? Die polnische Staatsanwaltschaft hat kürzlich eine offizielle Untersuchung eingeleitet, nachdem Bogdan Świeczkowski, Präsident des Verfassungsgerichts, am 5. Februar eine Klage eingereicht hat: Donald Tusk, sein gesamtes Kabinett, die Präsidenten beider Parlamentskammern sowie zahlreiche hochrangige Regierungsmitglieder seien als „kriminelle Organisation“ zu betrachten und zu verurteilen, da sie das Ziel verfolgten, die polnische Verfassungsordnung illegal zu verändern und zentrale Institutionen wie das Verfassungsgericht und den Obersten Gerichtshof zu schwächen – zwei Einrichtungen, die sich der Einflussnahme Donald Tusks entziehen und daher in ihren Entscheidungen von Tusk und seinen Verbündeten nicht mehr anerkannt werden.

Worauf basieren diese Anschuldigungen nun konkret? Die Liste der Vorwürfe ist lang, wie der Europaabgeordnete Patryk Jaki (PiS) kürzlich auf X darlegte, und ich erlaube mir, seinen Beitrag aus dokumentarischen Gründen in seiner ganzen Länge zu zitieren, da er viel über den aktuellen Zustand Polens aussagt:

  1. [Tusk] kündigte ein „Nürnberg“ für seine Gegner an. Ja, er benutzte buchstäblich das Wort „Nürnberg“. Das heißt, Nazis hängen.
  2. Er übernahm das Amt des Staatsanwalts mit Gewalt. Er schickte die Polizei, um das Gebäude ohne die Zustimmung des Präsidenten zu übernehmen, was in Polen gesetzlich vorgeschrieben ist. Er hat nicht darum gebeten. Er hat Gewalt angewendet, um dies zu tun.
  3. Der Oberste Gerichtshof und das Verfassungsgericht haben Tusk angewiesen, den rechtmäßigen Generalstaatsanwalt wieder einzusetzen, aber er sagte, er werde diesen Befehl nicht ausführen. Seine genauen Worte waren: „Wir werden Maßnahmen ergreifen, die möglicherweise nicht vollständig dem Wortlaut des Gesetzes entsprechen“, und: „Ich werde Entscheidungen in dem vollen Bewusstsein treffen, dass sie möglicherweise nicht den Standards von Rechtspuristen entsprechen.“ Kennen Sie einen anderen europäischen Premierminister, der offen zugibt, das Gesetz zu brechen, und dies auch weiterhin zu tun gedenkt?
  4. Tusk lässt Menschen ohne faire Gerichtsverfahren verhaften und ignoriert die parlamentarische Immunität, indem er zwei Abgeordnete im Präsidentenpalast festgenommen hat.
  5. Dasselbe tat er mit einem anderen Parlamentsmitglied, das Immunität vom Europarat genoss – der letzte, der dies vor ihm tat, war Putin.
  6. Er belästigte weibliche Beamte in Gewahrsam, um sie zu zwingen, gegen seine Gegner auszusagen. Er behandelte diese Frauen, die keine Vorstrafen hatten, wie Terroristen, schränkte ihre Nahrungsaufnahme ein und erlaubte es männlichen Wachen, sie bei der Verrichtung ihrer Notdurft zu beobachten. Dies wurde in dem Sonderbericht ihres eigenen Ombudsmanns bestätigt.
  7. Er setzte Männer aus Sicherheitsbehörden ein, um die Kontrolle über die öffentlichen Medien zu übernehmen. Die öffentlichen Medien sind unabhängig und haben befristete Mandate, aber er ignorierte dies und ließ die Gebäude von der Polizei blockieren.
  8. Er übernahm auch die Gerichte. Er schickte bewaffnete Polizisten zum Justizrat. Er verletzte die Amtszeit, die die Unabhängigkeit der Gerichtsführung in Polen garantierte, und jetzt manipuliert er die Justizgremien, um die Opposition einzusperren. In Polen haben wir ein System der zufälligen Richterzuweisung, um Objektivität und Unabhängigkeit zu gewährleisten. Das ist das Gesetz. Tusk hat es einfach ausgeschlossen. Wenn ein zufällig ausgewählter Richter ihm nicht gefällt, ließ er ihn einfach neu auslosen, bis er den gewünschten Richter bekommt.
  9. Tusk vertuscht auch Strafsachen, in die seine Verbündeten verwickelt sind. Er wies Korruptionsvorwürfe gegen den Senatspräsidenten zurück, obwohl zweihundertfünfzig Personen (die höchste Zahl in Europa) ausgesagt hatten. Er schützte einen Minister, der wegen Korruption in Höhe von mehreren Millionen Euro im Rahmen eines Abfallentsorgungsprogramms angeklagt war. Selbst wenn in diesem Fall die Schuld eingestanden wurde, wurde sie vertuscht.
  10. Gleichzeitig hob er jedoch die Immunität eines Oppositionsführers auf, nur weil dieser Blumen weggeworfen hatte, die seinen Bruder (den ehemaligen Präsidenten Polens) verhöhnten.
  11. Politische Parteien in Polen werden vom Staat finanziert. Tusk beschlagnahmte alle Mittel seiner wichtigsten Oppositionspartei, sodass er bei den diesjährigen Präsidentschaftswahlen fünfzig Millionen Złoty erhalten wird, während die Opposition, die mehr Stimmen erhielt als seine eigene Partei, leer ausgeht.
  12. Der Oberste Gerichtshof hat entschieden, dass Tusk gegen das Gesetz verstoßen hat, und ihm befohlen, die Opposition auszuzahlen. Er hat sich einfach geweigert, indem er diese Erklärung auf X veröffentlichte.
  13. Er hat die Veröffentlichung der Urteile des Verfassungsgerichts vollständig eingestellt. Die Venedig-Kommission erklärte kürzlich, dass es keinen Grund gebe, den Status der Richter in Polen infrage zu stellen, und dass die Nichtveröffentlichung der Urteile des Verfassungsgerichts ein Verbrechen sei. Dasselbe gelte für die Missachtung der Urteile des Obersten Gerichtshofs.
  14. Das Parlament hat die öffentlichen Mittel für die Verfassungsorgane des Verfassungsgerichtshofs und des Nationalen Justizrats zurückgehalten. Der stellvertretende Generalstaatsanwalt hat gerade eine Untersuchung des Angriffs von Premierminister Tusk auf das staatliche System eingeleitet.

Auf dem Papier betrachtet, sind diese Vorwürfe von außergewöhnlicher Schwere und könnten eine Haftstrafe von zehn Jahren bis lebenslänglich nach sich ziehen. In der Praxis ist es jedoch unwahrscheinlich, dass es zu ernsthaften Konsequenzen kommt. Warum?

Entscheidend ist der Kontext. Noch vor wenigen Monaten hatte Tusk das Justizministerium der Vorgängerregierung als „kriminelle Organisation“ bezeichnet und gefordert, sämtliche seiner Mitarbeiter als Komplizen zu verfolgen. Und vor nur wenigen Tagen hat Donald Tusk selbst ein Verfahren wegen „versuchten Staatsstreichs“ gegen seinen Vorgänger Mateusz Morawiecki angestoßen, der während des Covid-Lockdowns Vorbereitungen getroffen hatte, die damaligen Parlamentswahlen außerordentlicherweise als Briefwahl zu organisieren. Dass nun Tusk selbst einer ähnlichen Tat beschuldigt wird, erscheint vor diesem Hintergrund als politische Retourkutsche der Konservativen – zumal die Präsidentschaftswahlen bevorstehen. Denn sollte der scheidende konservative Präsident Andrzej Duda durch den liberalen Warschauer Bürgermeister Rafał Trzaskowski ersetzt werden, hätte Tusk de facto uneingeschränkte Macht. Und er wird wohl alles dafür tun, diese letzte zentrale Festung der Opposition zu schleifen.

Dass ihm dies wahrscheinlich gelingen wird, selbst wenn der PiS ein Überraschungserfolg beschieden sein sollte, können wir aus den jüngsten Entwicklungen in Georgien, Rumänien und der Slowakei ableiten, wo die Legitimität „populistischer“ Regierungen durch eine Kombination aus orchestrierten Protesten, juristischen Angriffen und medialer Einflussnahme untergraben wurde, um einen Regierungswechsel einzuleiten. Und man erinnere sich hier ebenfalls an Michel Barniers Aussage, dass auch in Deutschland ein Wahlsieg der AfD „nicht akzeptiert“ werden könne. In diesem Klima könnte Tusk also durchaus versuchen, die polnischen Wahlen, sollten sie zu seinen Ungunsten ausfallen, aufgrund von angeblichen „äußeren Einflussnahmen“ zu kassieren und so lange zu wiederholen, bis das gewünschte Ergebnis erzielt wird – mit potenziell dramatischen Folgen für die öffentliche Ordnung des Landes.

Doch das dürfte Brüssel, Berlin und Paris wenig kümmern. Als Mitglied der EVP genießt Tusk bedingungslose Unterstützung: Ursula von der Leyen, ebenfalls EVP, ließ nicht nur die unter PiS blockierten 110 Milliarden Euro EU-Gelder über Nacht freigeben, sondern bemüht sich auch aktiv, die aktuelle Krise in Polen unter den Teppich zu kehren – wie sich kürzlich zeigte, als der EVP-Politiker Javier Zarzalejos im EU-Parlament einfach das Mikrofon eines oppositionellen polnischen Abgeordneten abschaltete, als dieser auf die dramatische Situation des polnischen Rechtsstaats verwies.

Kurzum: Die Strafanzeige ist vor allem ein symbolischer Akt. Die EU wird sich kaum auf die Seite der polnischen Opposition stellen, und Donald Trump hat kein Interesse, den östlichen NATO-Flügel durch eine öffentliche Bloßstellung Tusks zu destabilisieren. Und selbst im Falle einer Verurteilung würde Tusk das Urteil wohl einfach ignorieren oder es als Vorwand für eine erneute Justizreform nutzen – was auch seine demonstrative Gelassenheit erklärt, als er als Reaktion auf die Anklage wegen Staatsstreichs auf X ein denkbar provokantes Video postete, das ihn zeigte, wie er in seinem Büro … Tischtennis spielt und sich über die Vorwürfe lustig macht.

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